Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
Ländern für eine Studie über hundertfünfzig Weizenfelder, um deren Biodiversität zu vergleichen. Ihr Resultat ist eindeutig: Auf ökologisch bewirtschafteten Flächen zählten sie rund 1000 verschiedene Arten, auf einem mit Unkrautvertilgungsmitteln und/oder Fungiziden behandelten Feld nur noch etwa halb so viele.
Wasser mit Nitraten, Phosphaten und Giften sind für Menschen als Trinkwasser gesundheitsschädlich, für Tiere zumindest kein Genuss. Pflanzen gehen an dem Chemiemix schlichtweg zugrunde. Mischten sich um das Jahr 1900 auf ländlichen Wiesen etwa dreißig Prozent Wildkräuter, beträgt deren heutiger Anteil magere zwei Prozent. Oder anders gesagt: Jedes zweite Ackerwildkraut steht nicht mehr am Feldrand, sondern auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Und bei den Brutvögeln sieht es ähnlich aus. Denn auch Ameisen, Raupen oder Schlupfwespen, von denen sie sich einst ernährten, halten die chemische Keule nicht lange aus.
In die Dörfer können sie sich aber nicht zurückziehen, denn die haben sich seit dem Krieg viel grundlegender gewandelt als die Städte – gerade nicht in Richtung Landidylle, wie sie die Magazine auf ihren schönen Fotos gerne zeigen. Rinder und Hühner wurden von den Straßen geholt und in Ställe gepfercht, statt Misthaufen mit Hahn stehen Güllesilos auf den Höfen. Feuerlöschteiche oder offene Gräben wurden zugeschüttet, Plätze und Straßen versiegelt, alte Mauern verfugt. Für Menschen mag ein solches Umfeld praktisch sein, für Tiere und Pflanzen bedeutet das Verschwinden ihrer ökologischen Nischen das Ende.
Das gravierende Artensterben, das viele Naturfreunde im Amazonas- oder Kongobecken beklagen: Es findet bei uns draußen in der Natur statt. Aber sicher nicht in der Großstadt. Denn dort ist die Biodiversität gewachsen – gegenläufig zum Artenverschwinden auf dem Land.
Wildnis zwischen Verkehrsinsel und Friedhof
Vögel sind die bestbeobachtete Artengruppe in den deutschen Städten. In Berlin haben Ornithologen seit 1850 ihre Zahl und Zusammensetzung kontinuierlich ermittelt und dabei unter anderem festgestellt, dass der Bestand an Brutvögeln am stärksten zwischen 1970 und 1990 angestiegen ist – trotz Verkehr, trotz massiver Baumaßnahmen, trotz hochgradig versiegelter Böden. Ein ganz existenzieller Grund lässt sich auf alle Städte übertragen: Hier sind sie sicherer als auf dem Land. Jäger müssen draußen bleiben, schießen ist verboten.
Die Städter sind den Tierchen meist zugetan, bremsen sogar gerührt, wenn eine Entenfamilie über die Straße watschelt. Der urbane Frieden macht das Leben für Vögel und Säugetiere um einiges stressfreier als auf dem Land. »So erleben wir das Urvertrauen in der Stadt«, sagt dazu Josef Reichholf, der Münchner Stadtökologe. »Auf dem Land ist es nahezu der gesamten Tierwelt abhandengekommen, weil fast alles über Spatzengröße mehr oder minder stark verfolgt, bejagt oder bekämpft worden ist.«
Ein weiterer Grund für die Attraktivität der Städte scheint angesichts der Zustände auf den Feldern ebenso offensichtlich: Außer auf besonderen Rasenflächen wird auf urbanen Grünflächen nicht gedüngt und kaum gespritzt. Das goutieren alle – von der Raupe bis zum Wildschwein. Den wichtigsten Grund, warum Tiere so zahlreich in Städten leben, teilen sie mit den Menschen. »Inseln der Vielfalt« nennt Josef Reichholf die Großstädte, denn sie bieten ihren Bewohnern ein buntes Mosaik an Lebensräumen, Lebensweisen, Nischen, Strukturen und Verstecken. Jedes Tierchen findet hier sein Pläsierchen. Und jedes Pflänzchen obendrein.
Liebhaber von Grasflächen, wie Kaninchen oder Feldhasen, die sich zu Stadthasen gewandelt haben, hoppeln durch Parkanlagen oder Brachen, noch friedlicher haben sie es auf Verkehrsinseln, wo keine Fressfeinde ihr Familienleben stören. Insekten wie Bienen oder Schmetterlinge saugen ihren Nektar vorzugsweise in blumenreichen Vorgärten und Datschen, Parkbeeten und Dachterrassen, denn da finden sie ungespritzte Biokost. Eichhörnchen oder Marder wiederum flanieren gerne durch Vor- oder Kleingärten, wo ihnen Gemüsebeete, Obstbäume oder Komposthaufen eine feine Auswahl an Leckereien offerieren.
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