Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
bei großen Kulturveranstaltungen wie der Loveparade«. Gerade beim Sport sei eine Vorstellung von Exzess zentral, die in der Großstadt steckt – »eine Freizeitkultur, die es mir erlaubt, kontrolliert und zeitlich begrenzt eine andere Identität anzunehmen als die, die ich ansonsten habe, und dabei über die Stränge zu schlagen«. Im Grunde ist aber genau dieses, eine andere Identität anzunehmen, in der Stadt täglich möglich, und zwar für Alteingesessene genauso wie für Neuankömmlinge.
Migration ist die Moderne
Migration jedenfalls ist kein Zivilisationsübel, sondern Motor der Zivilisation und der Moderne. Ein täglicher Karneval der Kulturen muss deswegen nicht veranstaltet werden. Es reicht ein pragmatisches Miteinander in Großstädten, in denen viele eine Heimat gefunden haben, auch wenn sie ursprünglich von woanders kommen. Das kann ich wunderbar beobachten, als ich am letzten Vormittag durch Essen spaziere. Viehofer-Straße, große Pause bei Inlingua. Auf den Fußgängerzonenblumenkübeln sitzen Menschen unterschiedlichster Herkunft, rauchen und plaudern. »Unsere Kurse, das ist wie bei Olympia«, so Astrid Jüngst, bei Inlingua in Essen zuständig für Integrationskurse und Deutsch als Fremdsprache. Praktisch alle Nationen rund um den Erdball von Honduras oder der Elfenbeinküste, aus Burkina Faso oder Litauen üben hier »die Stadt, das Haus, der Baum« und »Einmal Tee mit Zucker«.
»Von zwanzig Kursteilnehmern kommen immer zwölf bis fünfzehn aus verschiedenen Ländern«, so Jüngst. Immigranten, die schon seit 2005 eine Aufenthaltsgenehmigung haben, können zur Teilnahme der Kurse verpflichtet werden, wenn sie Arbeitslosengeld II beziehen. Neuzuwanderer sind generell zur Teilnahme verpflichtet, außer sie können die erforderlichen Sprachkenntnisse nachweisen. Besonders ambitioniert, so Jüngst, »sind die frisch Eingewanderten. Die wollen die Sprache lernen, die wollen arbeiten. Jetzt kommen auch immer mehr aus Europa, Spanier, Griechen …« Wie schnell jemand Deutsch lernt, hänge nicht unbedingt mit dem Willen zusammen. »Osteuropäer tun sich leicht mit der Aussprache. Asiaten haben es dagegen wirklich schwer, die kämpfen um jedes einzelne Wort.« Die soziale Funktion der Stadt, »das Miteinanderleben von untereinander Unbekannten zu ermöglichen«, wie Dirk Baecker von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen schreibt, funktioniert jedenfalls in der Rauchpause schon mal gut. Ob sich die Menschen darüber hinaus verstehen, treffen, gar mögen, das kann sich noch erweisen. Öffentliche Plätze jedenfalls, wie Fußgängerzonen, öffnen Räume für Menschen, in denen man sich zwanglos begegnen oder aus dem Weg gehen kann. Wie Baecker schreibt: Der öffentliche Raum »öffnet die Stadt für ein bewegliches Sach-, Zeit- und Sozialkalkül, angesichts dessen sich jeder jederzeit fragen kann, mit wem er sich wann worauf wie lange einlässt«. Ob sich die Frau aus Burkina Faso mit der Dozentin aus Berlin anfreundet oder der Mann aus Litauen noch mit der Lettin auf einen Tee geht – wo, wenn nicht in der Stadt können solche Überlegungen überhaupt angestellt werden?
Dass das Leben in den großen Städten nicht nur bunter und aufregender ist, sondern auch noch die vielleicht einzige Rettung für unser Klima sein kann, darum wird es im folgenden Kapitel gehen.
Meine Stadt und ich
Serhat Kanpara, 23, lebt seit sieben Jahren mit seiner Familie in Berlin-Kreuzberg in einer Mietwohnung. Beruf: Bäcker
■ Warum leben Sie in der Stadt?
Ich lebe in Berlin, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin und hier in unserer Bäckerei arbeite. Ich kann mir keine andere Stadt vorstellen.
■ In welchen Momenten empfinden Sie es als Glück, in der Stadt zu leben?
Es ist für mich ein Glück, mittendrin zu sein in der Szene von Friedrichshain-Kreuzberg. Hier hab ich alles, was ich brauche, und eigentlich auch noch viel mehr. Berlin ist angesagt, und hier ist immer was los.
■ Haben Sie einen Lieblingsort in Ihrer Stadt?
Die Oranienstraße, wo das Leben auf der Straße tobt und sich Kreuzberg in seiner ganzen Vielfalt zeigt.
■ Wie (er)leben Sie Nachbarschaft?
Eher gar nicht, ich habe auch mit kaum wem was zu tun, weil ich den ganzen Tag auf Arbeit bin.
■ Was fehlt Ihnen in Ihrer Stadt?
Manchmal fehlt mir doch ein bisschen Ordnung, vor allem, was das Verkehrschaos angeht.
■ Wann hängt Ihnen die Stadt so richtig zum Halse raus?
Wenn ich im Stau stehe.
■ Wie würde für Sie das ideale
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