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Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben

Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben

Titel: Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Barbara und Trippel Schaefer
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strengen sich an, bemühen sich um ihr Viertel. Man räumt ja auch die Wohnung auf, wenn Besuch kommt.« Was dennoch nicht heißen muss, dass ganz Marxloh sich nun beständig in den Armen liegt.
    Ich fahre zurück zum Bahnhof mit der 903er Straßenbahn. Zwischen vielen Menschen mit Handys, Smartphones und MP3-Playern steigt eine junge Frau ein. Blasses Gesicht, türkische Gesichtszüge, bodenlanger Jeansrock, Kopftuch. Sie setzt sich, zieht ein hellgrünes Buch aus ihrer Tasche, ein Insel-Taschenbuch, und beginnt sofort zu lesen. Jane Austen: Anne Elliot . Eine Geschichte um adlige Engländer vom Beginn des 19. Jahrhunderts – wer liest denn freiwillig solche Bücher und dann noch in der Tram in Marxloh? Spontan würde ich sie gerne fragen, warum sie das liest. Ich frage sie nicht, weil nun ich mich in meinen Vorurteilen ertappt fühle, weil schon die Frage latent fremdenfeindlich und ihre einzige Antwort nur sein könnte: »Ja, warum denn nicht?«
    Mit der kuschligen Idee der Multikultiwelt kann die Marxloherin Hatice Akyün wenig anfangen. Die Vorstellung einer weltoffenen und multikulturellen Gesellschaft sei nur eine Vision, ein Traum der Deutschen gewesen. Ihre Eltern hätten das nie gewollt, denn sie hatten ja nicht die Absicht, lange in Deutschland zu bleiben. »Die Deutschen wünschten sich ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Nationalität, Hautfarbe und Religion, sie wollten beweisen, dass die Zeiten von Rassismus und Diskriminierung in ihrem Land für immer vorbei sind. Aber die Türken der ersten Generation machten dabei nicht mit. Sie wollten so schnell wie möglich wieder zurück in ihre Heimat.«
    Für die zweite und dritte Generation der einst Gastarbeiter genannten Zuzügler sind die Städte an Rhein und Ruhr heute mit großer Selbstverständlichkeit Heimat. Nur die Gegenseite sieht die Migranten und ihre Kinder noch nicht so selbstverständlich als Teil Deutschlands an. Das ist aber einfach nur eine Frage der Zeit. Heute redet keiner mehr von den holländischen Zuzüglern Hamburgs aus dem 17. Jahrhundert oder den Hugenotten in Berlin. In den Städten lösen sich Nationen auf. Auch wenn manches etwas länger dauert: Viele Einflüsse von außen gingen im Deutschen so auf, dass sie heute als rein deutsch gefühlt werden. Angefangen bei der Sprache: von all den französischen Fisimatenten, welche die Hugenotten im 17. Jahrhundert nach Preußen einschleppten, bis zu Kiezdeutsch und Kanak Sprak mit Sätzen wie »Morgen ich geh Kino«, mittlerweile offiziell als Sprachvarietät und »Turbodialekt« eingestuft. Der Sprachwissenschaftler Helmut Glück vergleicht Kiezdeutsch justament mit dem Ruhrgebietsdeutsch, entstanden mit einer »starken polnischen Einwanderung in den Jahrzehnten um 1900«. Ich sage nur: »Hömma, gib mich den Tee mit wat Stücksken Zucker.«
    In den Pott wird weiter eingewandert, so ist das eben in Städten. Nach dem Fall der Mauer kamen wieder vermehrt Menschen aus dem östlichen Teil Mitteleuropas, also Polen, Ukrainer, Russen – »und unsere Mitbürger von jenseits der Elbe«, wie Goosen schreibt und noch eine Anekdote draufpackt: Er steht Anfang der neunziger Jahre mit einem Ostdeutschen an einer Bude, betrieben von einem Türken mit eindrucksvollem Schnauzbart. Der Ossi textet den Türken gnadenlos zu: »Sach ma, du bist ja ooch nicht von hier, aber schon länger vor Ort. Wie findsten dit, dat wir jetzt alle hier ufftauchen, also die Polen, Ukrainer, Russen und wir Ossis. Wie findsten dit?« – Der Türke beugte sich vor und sagte: »Wir euch nicht gerrufen!« Gelebte Integration, freut sich Goosen. Und auch jetzt sucht das Ruhrgebiet wieder händeringend Fachkräfte. NRW brauche eine »Willkommenskultur«, um Hochqualifizierte ins Land zu holen, so Integrationsminister Guntram Schneider im Sommer 2012. Liebe Polen, liebe Griechen, liebe Spanier: Koffer packen, auf geht’s!
    Sport als Motor der Integration
    Nächste Station meiner Ruhrpott-Tour: Gelsenkirchen, Veltins-Stadion. Fußball gehört zum Pott wie Mayo zu den Pommes. Auch das, sportliche Großereignisse von Bundesligaspielen bis Leichtathletik-Meisterschaften, können nur Großstadtbewohner vor Ort live verfolgen. In der Straßenbahn zum Stadion quetschen sich Väter und Söhne, Sportliche und Dicke, Gebildete und Schlichte, da wird gemeinsam vorgeglüht und gefeiert. Das Identitätsstiftende des Fußballs kann da so richtig erlebt, gespürt, gehört und gerochen werden. Einzig ich trage kein blaues T-Shirt

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