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Stadtmutanten (German Edition)

Stadtmutanten (German Edition)

Titel: Stadtmutanten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Strahl
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mit einem Einzelnen aufnehmen. Und die Gefahr eines Bisses konnte uns ziemlich egal sein. Außerdem tat es gut, eine Aufgabe zu haben, anstatt sich in Selbstmitleid zu suhlen. Wir verschwiegen also unseren Zustand und folgten ihr auf die Straße. Unsere Verbände waren gut unter unseren Jacken verborgen. Ben hatte sich zusätzlich dunkle Lederhandschuhe angezogen, so dass seine Verletzung nicht auffiel. Bevor wir losliefen, drückte er mir seinen Ersatzschlüssel in die Hand. »Für alle Fälle.«
    Draußen auf der Straße herrschte noch eine Menge Betrieb. Viele hatten bis jetzt vor dem Waller Bahnhof ausgeharrt, um vielleicht doch noch einen Zug zu ergattern. Am Ende hatten auch sie aufgegeben. Aus Gesprächsfetzen vorbeieilender Menschen konnte ich heraushören, dass das Militär die Absperrungen verstärkt und den Bahnhof komplett dichtgemacht hatte. Die meisten fügten sich in ihr Schicksal und kehrten mit Sack und Pack in ihre Wohnungen zurück. Andere waren weniger friedfertig. Einige junge Männer grölten, traten Außenspiegel von parkenden Autos ab und warfen Mülleimer auf die Straße. Dann wurden wir durch einen Aufschrei in der Menge hinter uns alarmiert. Einer der Beißer war offenbar unerkannt in der Menge aufgetaucht und begann nun wahllos Passanten anzugreifen. Sofort verlagerte der Mob seine Konzentration auf dieses neue Ziel. Sie schlugen und traten ihn regelrecht zu Brei. Seine Reaktion auf die Misshandlung war ungewöhnlich: Die schweren Treffer sahen schmerzhaft aus. Ein Angreifer brach ihm alle Finger der rechten Hand, aber den Totenmann schien das nicht zu behindern. Er warf sich sofort wieder ins Getümmel, als wäre nichts geschehen. Er spürte keine Schmerzen. Er versuchte auch nicht zu fliehen, sondern attackierte seine Peiniger unbeirrt weiter. Ob mit Erfolg, konnte ich aus meiner Perspektive nicht beurteilen. Aber die Jungens schlugen ihm derart unbedacht ins Gesicht, dass es schon ein Wunder gewesen wäre, wenn nicht bald einige von ihnen Bens Schicksal teilen würden.
    Schließlich rissen wir uns von dem Anblick los und ließen uns von Lila zu einem Mietshaus in der Vegesacker Straße führen.
    Nachdem Lila die Haustür aufgeschlossen hatte, hielten wir kurz inne und horchten. Es war nichts aus dem Hausinneren zu hören. Sowohl Leon als auch die zurückgekehrten Hausbewohner verhielten sich ruhig. Vielleicht hatte sich das Problem bereits auf die eine oder andere Art von selbst gelöst. Das hoffte ich zumindest.
    Wie sehr Recht ich damit hatte zeigte sich, als wir die Wohnung betraten. Lila hatte so leise wie irgend möglich den Schlüssel im Schloss umgedreht und die Tür einen Spalt geöffnet. Ben und ich schlichen dann gefolgt von Lila in die Wohnung und fanden keinen tobenden Leon im Hausflur vor. Dafür eine offene Zimmertür.
    Sissis Tür.
    Leon hatte sich in Lilas Abwesenheit Zugang zu Sissis Zimmer verschafft. Da wir nichts hörten, klammerte ich mich für einen Moment an die Hoffnung, Sissi könnte es irgendwie raus geschafft haben. Aber dann vernahm ich ein Rascheln, unterlegt von einem debilen Gequäke. Es klang wie ein Einjähriger, der noch nicht sprechen kann und seine Ungeduld durch unartikulierte Laute ausdrücken muss und darüber in den Stimmbruch gekommen ist.
    »Eeeeeeeeee…«
    Das Geräusch jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. An Sissis Zimmertür hielten wir inne. Das Bild, das sich uns offenbarte und sich zu den Geräuschen ergänzte, war gleichzeitig grotesk und ekelhaft.
    Sissi war tot.
    Sie lag in einem unnatürlichen Winkel neben ihrem Schreibtisch, den Kopf am Heizkörper eingeschlagen. Über ihr hockte Leon in seinem erbärmlichen Versuch, seine Mitbewohnerin zu verspeisen. Hätte es sich bei seinem Opfer um irgendein Ding gehandelt und nicht um eine bis vor kurzem noch lebensfrohe junge Frau, hätte die Szene etwas Mitleid erregendes gehabt. Aber so war die Szene nur abstoßend.
    In Horrorfilmen haben Kannibalen zumeist leichtes Spiel. Es werden den Opfern reihenweise faustgroße Stücke aus dem Körper gebissen, Zombies zerreißen mit bloßen Händen menschliche Haut und laben sich an den dampfenden Innereien ihrer Opfer. Diese Szenen sind mit der Zeit immer wieder unreflektiert übernommen und imitiert worden. In Wahrheit ist die menschliche Haut aber ein erstaunliches Organ, das gleichermaßen elastisch und reißfest ist. Und dahinter liegen Stränge rohen Fleisches, mit Sehnen und Adern durchsetzt. Ein gutes Steak roh zu verzehren ist eine

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