Stadtmutanten (German Edition)
hörte ich einen sichtlich erleichterten Ben, der Lila rief.
»Er ist wieder da!«
Vorsichtig versuchte ich, mich aufzusetzen. Ich hatte mein Leben lang immer wieder unter Kreislaufproblemen gelitten. Während andere sich tagelang von Kaffee und Zigaretten ernähren konnten, führte dies bei mir schon nach kurzer Zeit zu Problemen. Schlafmangel und Alkohol machten die Sache nicht besser. Ich fühlte mich immer noch schlecht, unterzuckert. Also fragte ich Lila nach einem Schokoriegel oder etwas Traubenzucker. Sie griff kurz in die Küchenschublade und reichte mir daraus einen Riegel Dextro Energy. Nach meiner Dosis Zucker und einem Glas Leitungswasser fühlte ich mich besser, aber noch lange nicht fit. Lila hatte für uns alle dampfenden Kaffee angesetzt, den ich ebenfalls dankbar annahm. Als wir nun alle am Tisch saßen, hatte ich das Bedürfnis, mich zu entschuldigen.
»Tut mir leid. Der Alkohol von gestern und der Schlafmangel. Und dann noch der anstrengende Tag. Hab wohl etwas geschwächelt. Hey Ben, danke, dass du mir den Arsch gerettet hast.«
»Kein Problem, Mann. Außerdem hab ich mich kurz vorher auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert.«
Lila schaute schnaubend von Ben zu mir und von mir zu Ben. Dann explodierte sie.
»Seid ihr beiden noch ganz gar? Da drüben liegen meine Freunde. Tot! Und ihr quatscht hier eure Machoscheiße von wegen‚ ’entschuldige, dass ich eben schwach war’. Ihr kotzt mich an, echt!«
»Lila, tut mir leid. Wirklich. Wir wollen nichts herunterspielen oder so. Wir machen das, weil wir Männer sind und nicht so gut über unsere Gefühle reden können.«, versuchte ich sie zu beschwichtigen.
Eine kurze Pause unangenehmen Schweigens entstand. Nach einer Weile zuckte Lila mit den Achseln.
»Und? Was jetzt?«
Die Antwort auf die Frage fiel nicht leicht.
»Du wirst nicht hier bleiben können. Hier wird es bald nicht mehr sehr angenehm riechen. Wir können niemanden um Hilfe bitten und auch nicht die Polizei rufen. Nicht mal ein Krankenwagen wird kommen. Die Leitungen sind tot. Wir können die Leichen auch nicht einfach auf die Straße werfen. Das Haus hier ist nicht sicher. Eure Wohnungstür ist zu leicht einzutreten. Und was eure Zimmertüren taugen, haben wir alle gesehen. Wenn Plünderer kommen oder ein paar von diesen Dingern…«
Sie nickte. »Und?«
Ben schaltete sich ein.
»Du kannst in meiner Ferienwohnung unterkommen. Die Tür ist sicher und das Gebäude liegt nahe am Bahnhof, falls die Evakuierung weiter gehen sollte.«
»Ist die denn groß genug für drei?«
Ben und ich warfen uns einen kurzen Blick zu, dann nickte er mir zu. Ich sollte die unangenehme Botschaft weitergeben. Widerstrebend nickte ich zurück.
»Wir werden nicht mitkommen. Wir bringen dich hin. Dann hauen wir ab.«
»Und wieso? Wollt ihr irgendwo weiter die Helden spielen?«
»Nein.« Ich zog seufzend mein Sweatshirt aus, löste den Verband und zeigte ihr meine Wunde. Ben zog seinen Handschuh aus und tat dasselbe.
»Es geht nicht. Tut mir leid.«
Wir gaben Lila eine halbe Stunde zum Packen. Ben und ich gingen zurück in Sissis Zimmer. Die beiden Toten lagen noch genauso da, wie wir sie zurückgelassen hatten. Es kostete einige Überwindung, mit ihnen in einem Raum zu sein, aber es half, nicht in ihre Gesichter zu schauen. Wir fanden einen Teppich auf dem Boden und eine schwere Decke auf dem Sofa. Wir hüllten Sissi in die Decke, Leon rollten wir in den Teppich. Ben musste die meiste Arbeit tun, doch das schien ihm nichts auszumachen. Nach einiger Zeit sagte er, er käme jetzt allein klar. Also ging ich auf den Gang und sah nach Lila. Ich fand sie in ihrem Zimmer.
»Wir haben Sissi und Leon verhüllt, damit sie nicht so offen herumliegen.«
»Danke.«
»Kann ich noch was für dich tun?«
Ein dünnes Lächeln. Nicht viel, aber wenigstens etwas. Das Ausmaß ihrer eigenen Schuldgefühle gegenüber Sissi, die gestorben war während und vielleicht auch weil Lila nicht im Haus gewesen war, konnte ich nur erahnen. Da fiel mir etwas ein, das sie über Leon erzählt hatte.
»Ist es OK, wenn ich mich mal in Leons Zimmer umsehe? Er schien ja irgendetwas gewusst zu haben.«
Sie überlegte kurz und nickte dann.
»Ist in Ordnung, aber erwarte nicht zu viel.«
Leons Zimmer war äußerst spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch, auf dem bis auf eine Lampe und einem leeren Ablagekästchen nichts stand. Ein sauber aufgeräumter Kleiderschrank, ein Bett und ein Bücherregal. Leon hatte so gut wie gar
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