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Stadtmutanten (German Edition)

Stadtmutanten (German Edition)

Titel: Stadtmutanten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Strahl
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PARALLELUNIVERSUM
     
     
    Das Mehrfamilienhaus, in dem ich mit meiner Familie wohnte, lag in einer Nebenstraße in der Nähe des Waller Parks. Die Straße ist so kurz, dass sie selbst den meisten Taxifahrern unbekannt ist. Am Ende der Straße trennt ein hoher Zaun das Grundstück vom Waller Park. Die Lage ist für Waller Verhältnisse sehr grün und lauschig.
    Die Straße selbst war leer und verlassen wie alle anderen im näheren Umkreis auch. Die Evakuierung hatte hier offenbar besser funktioniert als in der Vegesacker Straße, in der Lila mit Leon und Sissi gewohnt hatte. Aber nicht alle Mieter waren fort. Ich hörte leise Musik aus einer Wohnung irgendwo in der Straße. Jemand war zuhause und noch lebendig genug, um sich für Musik zu interessieren.
    Vor unserem Haus stand der LKW einer Gartenfirma. Ich blieb stehen und blickte in die Fenster der umliegenden Häuser, die rechts und links die Straße säumten. Es war kaum auszumachen, hinter welchem Fenster neugierige Nachbarsaugen uns argwöhnisch beobachteten. Es war trotz der Ausnahmesituation durchaus möglich, dass ein offensichtlicher Diebstahl am helligten Tag uns in Schwierigkeiten bringen könnte. Ich ließ es darauf ankommen. Sollte ein aufgebrachter Nachbar sich beschweren, würde ich ihm wahrscheinlich für diesen Akt der Normalität um den Hals fallen. Entschlossen sprang ich auf den Lastwagen und löste einen Spaten aus der Verankerung. Ich prüfte sein Gewicht und seine Schneide. Es war ein gutes Gefühl. Ich sah mich nach anderen Geräten um, die in einem möglichen Kampf im Haus nützlich sein könnten und fand einen Besen und eine Harke. Alle drei Waffen hatten den gleichen Nachteil: Sie waren recht lang und würden uns bei einem etwaigen Kampf im Haus behindern. Der Besen eignete sich zudem nicht als Angriffswaffe. Aber ich fühlte mich bewaffnet besser. Lila und Ben teilten wohl dieses Gefühl und nahmen sich jeder ein Gerät. Als Ben ausgerechnet nach dem stumpfen Besen griff, schaute ich ihn fragend an. Er zuckte mit den Schultern.
    »Die letzte Sauerei hab ich angestellt. Diesmal ist einer von euch dran.«
    Damit gingen wir zur Haustür. Ich schloss auf und horchte ins Haus. Zunächst hörten wir nichts. Doch dann vernahm ich das leise Klicken einer sich öffnenden Wohnungstür.
    Es war jemand im Haus!
    Er oder sie wollte nicht entdeckt werden, war aber zu neugierig, um in den eigenen vier Wänden zu bleiben.
    Das Erdgeschoss und der erste Stock lagen still und ruhig. Auch der zweite Stock schien verlassen. Als wir jedoch bereits wieder auf der Treppe zum Dachgeschoss waren, hörten wir ein Geräusch hinter uns. Es kam aus der Wohnung von Günther und Marita Jacobs, die dort mit ihrem 16jährigen Sohn Martin wohnten. Uns als Freunde zu bezeichnen, wäre übertrieben, aber wir hatten ein gutes Verhältnis: Wir grüßten uns, halfen uns gegenseitig mit Werkzeug und anderen Alltagsdingen aus. Martin war auch ein lieber Kerl. Er bestand darauf, Marty genannt zu werden, ein Gefallen, dem seine Eltern ihm nach hartnäckigem Beharren schließlich auch taten. Ich verständigte mich flüsternd mit meinen Begleitern: Ich würde vorgehen, hinter mir würden Lila und Ben Deckung geben, falls dies ein Hinterhalt war. Wer wusste schon, was für Leute nun in diesem Gebäude hausten?
    Als ich vor der Tür stand, war ich unschlüssig. Ich entschied mich für die einfachste Lösung: Ich drückte auf den Klingelknopf. Innen ertönte das Bimmeln der Türklingel. Dann ein leises Geräusch in Kopfhöhe: Jemand schaute durch den Spion. Dann ertönte ein rhythmisches Klopfen an der Tür. Dann eine gedämpfte Stimme:
    »Los nachmachen!«
    Ein Intelligenztest! Nicht übel. Das Klopfsignal wurde wiederholt. Ein einfacher Rhythmus von etwa einem Takt Länge. Ich streckte die Hand zur Tür aus und imitierte das Zeichen.
    Einmal.
    Zweimal.
    Als ich die Hand zum dritten Mal ausstreckte hörte ich, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Einen Moment später öffnete sich die Tür. Vor uns stand Marty. Er war schon in besserer Verfassung gewesen. Unter seinen rot unterlaufenen Augen waren dunkle Ränder, die Haare waren zerzaust, die Kleidung zerknittert. Um seine Lippen herum klebte etwas, das wie Blut aussah. Auf seinem T-Shirt ebenfalls ein roter Fleck. Ich spürte, wie sich mein Körper spannte. Dann wehte mir der Geruch von Erdbeeren und Zucker in die Nase. Ich entspannte mich. Auf seinem T-Shirt war von allen Dingen auf der Welt nur ordinäre Erdbeermarmelade.

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