Stadtmutanten (German Edition)
aber ich entschloss mich, die Situation zu entschärfen.
»Beruhigt euch. Es ist, wie es ist. Und wir sind schließlich auch noch hier, oder?«
»Ach ja, wie kommt es, dass ihr nicht den Zug ins Leben genommen habt?«
Also erzählte ich Marty unsere Geschichte in groben Zügen. Die Tatsache, dass Ben und ich infiziert waren, ließ ich aus und schob die Schuld für unser Bleiben auf den Tumult am Bahnhof, was zumindest nicht ganz, sondern nur zu 80% gelogen war. Den Kampf mit Leon verschwieg ich ebenfalls. Die Stelle mit Enrico fand Marty interessant. Er wollte eine CD. Ich sagte ihm, da ließe sich vielleicht etwas organisieren. Als ich fertig war, bemerkte ich Bens strengen Blick im Nacken. Da wurde mir bewusst, dass ich meine Erzählung unbewusst im »wir« gehalten hatte und weder Katie noch Kai nur ein einziges Mal erwähnt hatte. Ich musste mir eingestehen, dass ich wegen Lila meine Frau und mein Kind unerwähnt gelassen hatte.
Als wir losgingen, verspürte ich das Bedürfnis, etwas für Marty zu tun. Ich fühlte mich irgendwie verantwortlich für ihn. Also bot ich an, dass er mit zu mir kommen könne. Er lehnte jedoch ab.
»Danke, Mann. Aber ich bleib hier bis Mama und Papa wieder hier sind. Aber sag Bescheid, wenn ihr einkaufen geht, der Kühlschrank ist bald leer.«
»Alles klar. Und komm hoch, wenn du Probleme hast oder Gesellschaft haben willst, OK?«
»OK. Bis dann.«
»Was machst du jetzt, wenn wir weg sind?«
Marty grinste. »Zocken. Und Kiffen.«
Also gingen wir in meine Wohnung und überließen Marty seinem Paralleluniversum, in dem er austestete, ohne Mama und Papa zu wohnen. Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis Marty unter dem Begriff »alleine wohnen« etwas anderes als Videospiele, Kiffen, lang schlafen und laute Musik verstehen würde.
Als wir meine Wohnung betraten, wurde ich mit weiteren, ganz privaten Parallelwelten simultan konfrontiert. Die Wohnung mit all den Erinnerungen an Kai und Katie verkörperte die Welt, in der ich bis vor kurzem gelebt hatte und die Rolle als Ehemann und Vater, die ich in dieser Welt inne hatte und die wieder zu leben mein größtes Ziel war. Ich spürte beim Eintreten eine Art von schmerzvoller Sehnsucht, die fast körperlich war. Es drohte mich zu zerreißen. Erst jetzt war mir wirklich bewusst, dass ich von meinen Lieben getrennt war und was dies bedeutete. Ich würde sie vielleicht niemals wieder sehen. Ich könnte sterben, ohne sie noch einmal in die Arme zu schließen. Ein wenig Trost spendete Bens Anwesenheit. Seine Anwesenheit erinnerte mich daran, dass ich mir jene Welt verdienen konnte. Ben stand für die Machoseite, den Kampf ums Überleben. Dies war der Weg, den ich gehen musste, wollte ich überleben und meine alte Rolle zurückerobern. Die Tatsache, dass Lila anwesend war, wies mich auf eine Zukunftsalternative hin, falls es kein Zurück gab: Ein Leben an der Seite einer jungen Frau, die mich für meine wilde Seite vergöttern würde, wie eine kleine Stimme in mir augenzwinkernd anmerkte.
Es tat weh, so zu denken und schnell drängte ich diese Stimme in den Hintergrund, musste aber zugeben, dass ich mir Lila die ganze Zeit über versuchte warmzuhalten. Ich beruhigte mich mit der Gewissheit, dass ich mich so bald nicht entscheiden musste, denn welche Zukunft mir auch immer beschert sein sollte, ich musste sie mir erst erkämpfen. Dies ließ die Stimmen in meinem Kopf ruhen. Vorerst.
8 SHOPPING
Ich muss eine Weile mit entrücktem Blick im Eingang gestanden haben. Als ich wieder zu mir kam, schaute ich in zwei besorgte Gesichter. Beschämt stellte ich fest, dass mir Tränen das Gesicht herunter liefen. Ich wischte sie weg und schloss die Tür hinter mir. Ben und Lila wechselten einen Blick, tuschelten irgendetwas.
»Guckt mich nicht so an, mir geht’s wieder gut.«
Etwas entspanntere Mienen, aber noch keine Entwarnung.
»Ihr habt keinen sabbernden Idioten an der Backe, keine Angst. Aber das hier ist emotional für mich etwas… naja, ihr wisst schon.«
Ben schien zu verstehen. »OK, Mann. Ich mach uns ´nen Kaffee.«
Als Ben in der Küche verschwunden war, warf Lila einen Blick durch den von ihrer Position aus sichtbaren Teil der Wohnung und schaute wieder zu mir. Ungläubig zunächst, dann wütend. Und etwas traurig? Das wollte mein Ego zumindest in ihrem Blick sehen.
»Du hast mir nichts von all dem hier erzählt.«
»Stimmt, sorry.«
»Nein, es ist OK, ich
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