Stadtmutanten (German Edition)
und ich fragte mich, ob es ihm genauso gegangen war. Er nickte mir zu. Es schien, als hätte er auf mein Erwachen gewartet. Ich wunderte mich langsam, warum er mir so offen die Führung überließ, wenn ich in seinen Augen doch ein Schwächling sein musste. Nein, kein Schwächling, denn zumindest hatte ich mehrere Männer - obgleich mutiert - mit meinen eigenen Händen getötet. Machte so etwas ein Schwächling? Und warum machte ich mir darüber überhaupt einen Kopf? Ich kannte die Antwort: Ich hatte Angst. Egor hatte Recht: Ich hatte kein Pokerface. Und ich hatte keinen Schutzpanzer, der mich vor einprasselnden Emotionen schützte. Ich war kein Feigling, aber ich konnte meine Gefühle nicht so leicht verdrängen. Ben wusste das und war geduldig mit mir. Aber warum? Warum ließ er sich von einem wandelnden Unsicherheitsfaktor führen? Wollte er mich erziehen? Ich schob den Gedanken weg. Wir hatten eine harte Nuss zu knacken, dafür brauchten wir unsere ganze Aufmerksamkeit. Ich nickte Ben ebenfalls zu und öffnete die Mitteltür.
Wir standen im Hausflur des Wohnhauses. Von hier aus ging eine Tür gleich rechts von uns ab, daneben lag eine Treppe, die in den ersten Stock führte. Etwas weiter unter der Treppe war eine Holztür, die wohl in den Keller führte. An der Wand gegenüber konnten wir durch die geöffnete Tür in die kleine Küche schauen. Auf der linken Seite ging eine Tür gleich neben der Küchentür ab. Auch sie stand offen. Wir wagten zunächst einen kleinen Blick hinter die verschlossene Tür rechts neben uns. Ben nahm den Türknauf in die Hand und schaute mich fragend an. Ich umklammerte den schweren Eisenknüppel und ging in Stellung. Ben nickte und riss die Tür nach außen auf. Dahinter lachte uns das Gästeklo des Hauses an. Kurzes Aufatmen. Ben schloss die Tür.
»Und jetzt?«, flüsterte er.
Ich zuckte mit den Achseln. »Lass uns Stockwerk für Stockwerk vornehmen.«
»OK.«
Wir schlichen uns durch den Flur weiter bis zur offenen Küchentür und wagten einen Blick hinein. Sie war weniger verwüstet als ich angenommen hatte. Die Beißer schienen ihre Aggression nicht an Kücheneinrichtungen auszulassen. Das Zimmer nebenan lag im Dunkeln. Es war das Wohnzimmer des Hauses. Durch die Bretter an den Fenstern drang genügend Licht von den Straßenlaternen hinein, um sich ohne Mühe zurechtzufinden. Für kleine Details reichte das Licht nicht aus, aber ich entschied, dass ein brüllender Totenmann auf der Suche nach Frischfleisch nicht unter die Kategorie kleines Detail fiel. Im Wohnzimmer standen ein paar Bücherregale, eine Sofagarnitur mit Tisch, ein großer Flachbildfernseher und gleich neben der Tür eine Vitrine mit Gläsern, daneben eine große Pflanze, eine Palme oder etwas in der Art. Kein Totenmann in Sicht. Nachdem wir uns auf diese Weise versichert hatten, allein zu sein, verließen wir das Wohnzimmer und widmeten unsere Aufmerksamkeit der Kellertür. Vor der Tür wiederholten wir unser Ritual von der Klotür: Ben nahm den Griff in die Hand und schaute mich an. Ich umklammerte den Griff meiner Waffe und ging in Kampfstellung. Ben nickte und riss die Tür auf. Urplötzlich wurde hinter mir im Wohnzimmer mit einem lauten Knall die Vitrine umgeworfen und zu dem Klirren von zerberstendem Glas gesellte sich das vertraute Grunzen eines Totenmannes. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, hatte er sich schon auf mich geworfen. In einem Film hätte ich die Situation für einen logischen Fehler gehalten, weil die Protagonisten ja schließlich gerade das Zimmer überprüft hatten. Aber die Wahrheit ist, dass wir das Zimmer nicht gründlich genug kontrolliert hatten. Es ist schon bemerkenswert, wie sehr man sich selbst belügen kann. Ich war mir so sicher, dass ich es nicht für nötig hielt, hinter Fernseher oder Pflanze nachzusehen. Das Gleiche galt für Ben. Und nun hatte ich den Beißer buchstäblich im Nacken. Er hielt mich von hinten umklammert und schnappte unaufhörlich nach mir. Ich beugte meinen Kopf weit nach vorn, um seinen Bissen zu entgehen. Schließlich holte ich Schwung und ließ mich mit samt meinem Angreifer rückwärts gegen die Wand krachen. Wir fielen gegen einen Lichtschalter und schon ging im Flur das grelle Licht einer alten 60 Watt Glühbirne an. Fluchend fiel mir ein, dass die Totenmänner kaum noch Schmerz empfanden. Doch dann lockerte er seinen Griff und hielt stöhnend seine Hände übers Gesicht, um sich vor dem Licht zu schützen. Anscheinend waren seine
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