Stadtmutanten (German Edition)
worden. Neben dem Fahrstuhl war ein gigantisches Baufahrzeug so dicht geparkt worden, dass es den Zaun stützte. Sollte hier jemand entwischen wollen, musste er diesen Brecher wegschieben. Keine Chance, hier gab es kein Durchkommen. Hinzu kam ein Baustellenzaun, der uns von der Straße abschnitt. Zusammen wirkte all dies sehr einschüchternd und ganz und gar nicht beruhigend. Auf der Straßenebene unter der Brücke und auf der Kreuzung waren Straßensperren errichtet worden. Während die Sperre auf der Kreuzung immer wieder für die ein und ausfahrenden Busse geöffnet wurde, wurde unter der Brücke hinter der Straßensperre ebenfalls ein Zaun hochgezogen. Man hatte anscheinend vor, den Stadtteil Walle dicht zu machen. Ich fragte mich langsam, was hier innerhalb eines Tages geschehen war, um solch drastische Maßnahmen wie eine Evakuierung in Verbindung mit der kompletten Abriegelung eines ganzen Stadtteiles - mehrerer Stadtteile, wie sich später herausstellte - zu rechtfertigen. Ich hatte mich geirrt. Wir befanden uns mitten in einem Krisengebiet. Dies war Afghanistan, dies war der Gazastreifen.
Immer mehr Busse kamen und spuckten Menschen aus, die über das Nadelöhr Waller Bahnhof aus dem Stadtteil befördert werden sollten.
»Hey Ben, findest du das nicht auch komisch?«
»Was denn?«
»Die ganze Aktion hier. Angesichts der zu befördernden Menschenmassen sollte es doch effizientere Methoden geben, die Evakuierung durchzuführen. Und es dauert immer Ewigkeiten, bis der Fahrstuhl zurückkommt.«
»Stimmt«, nickte Ben, »da passt etwas nicht zusammen.«
Hinter Ben und mir stand ein alter Mann, der auf seinem Rollator lehnte. Er hatte kaum Gepäck dabei, nur der Korb seiner Gehhilfe war mit dem Nötigsten gefüllt. Er wirkte nervös und gereizt.
»Machen die da oben Teekränzchen oder was soll das hier?«
Ich schaute ihm ins Gesicht. Er sah unendlich müde aus, aber seine Augen verrieten einen wachen Verstand und Sinn für Humor. Er war mir auf Anhieb sympathisch.
»Solange es noch Kuchen gibt, wenn wir gleich oben sind, soll mir das recht sein.«
Er grinste. Ich hatte offenbar seine Art von Humor getroffen.
»Mit Schlagsahne. Und Streuseln drauf. Und mindestens einmal nachschenken. Das haben wir uns verdient.«
Ich wollte gerade unsere kleine Geschichte weiterspinnen, als plötzlich Unruhe aufkam. Ein Auto raste durch die Straßensperre und brauste in die Menschenmenge. Leute sprangen panisch zur Seite. Wie durch ein Wunder wurde niemand überfahren. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen inmitten der Menschenmenge zum stehen. Der Motor erstarb. Augenblicklich stieg der Fahrer aus und rannte zum Fahrstuhl. Hinten im Auto befanden sich noch weitere zwei Personen, die anscheinend Probleme beim Aussteigen hatten. Der Fahrer erreichte den Fahrstuhl und hämmerte auf den Knopf, der den Fahrstuhl rief. Nichts geschah. Ben packte den Mann am Kragen und wuchtete ihn gegen die Fahrstuhlwand.
»Was soll der Scheiß? Hast du sie noch alle?«
»Mann, du verstehst nicht.«
Ben rammte ihn erneut mit dem Rücken gegen die Wand.
»Nein, du verstehst nicht! Hier hätten Menschen sterben können, ist das klar? Was für ein Arschloch bist du eigentlich?«
»Ich muss da hoch, verdammt!«
»Das müssen wir auch. Wir alle!«
»Verdammt noch mal, ich hatte Schiss, OK? Stell dir vor, deine beiden besten Freunde verrecken auf dem Weg ins Krankenhaus auf deinem Rücksitz fangen danach an, sich wie die Bestien zu benehmen!«
Ben ließ den Mann los.
»Was?«
»Ich weiß, wie das klingt, aber…«
Bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde er durch ein Kreischen unterbrochen.
»Scheiße, sieh doch selbst!«
Damit riss er sich endgültig los und rannte in die Menschenmenge. Ich sah zum Auto. Einer der Insassen hatte sich inzwischen befreit und war ausgestiegen. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war blau angelaufen und sein Hemd war ein einziger Blutfleck. Er sah toter aus als tot, nur eben, dass er sich bewegte. Seine Bewegungen waren linkisch. Aus seinem Mund dröhnte ein kehliges Brüllen, dann machte er sich daran, die umstehenden Leute anzugreifen. Sein Kompagnon versuchte indes kriechend, sich aus dem Auto zu befreien. Er sah weniger stark verletzt, trotzdem aber nicht wirklich lebendiger aus. Auch er brüllte. Als der bereits befreite Totenmann einem etwa 15jährigen Mädchen in den Hals biss, brach in der Menschenmenge eine Panik aus. Diejenigen, die außerhalb der Brücke gewartet hatten, rannten panisch in
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