Stadtmutanten (German Edition)
oder gelesen, die evakuiert worden waren. Das Schicksal der Menschen machte einen betroffen, aber irgendwie blieb es auch abstrakt. Nun erfuhr ich die Situation zusammen mit meiner Familie und meinem alten Freund Ben am eigenen Leib und ich kann sagen, es ist ein mieses Gefühl. Man muss packen, aber was zum Teufel packt man ein? Für wie lange überhaupt? Nehme ich etwas Persönliches mit? Und was? Welches Spielzeug packen wir für Kai ein? Und die Sorgen: Was geschieht mit unseren Besitztümern? Wird das Haus noch stehen, wenn wir zurückkommen? Es ist ein Scheißgefühl, das sage ich Ihnen. Und eine Scheißsituation. Aber wir haben sie gemeistert. Zumindest am Anfang.
Die Bundeswehr klingelte gegen 16 Uhr nachmittags. Inzwischen hatten wir fertig gepackt. Wir hatten den Kinderwagen randvoll gepackt, dazu kam ein Reiserucksack und Katies Handtasche, in die wir wichtige Dokumente packten. Wir hätten stolz sein können, dass wir das in zwei Stunden geschafft hatten, aber die Wahrheit ist, dass wir uns hoffnungslos gestritten hätten, wenn kein Besuch da gewesen wäre und Kai nicht immer wieder durch niedliche Aktionen die Stimmung aufgelockert hätte. Der kleine Mann hatte eben seine eigene Vorstellung davon, auf welche Dinge man auf gar keinen Fall verzichten könnte und packte daher diverse Spielzeuge, Kekse und natürlich seinen Esel ein. Das meiste davon flog wieder hinaus und musste Anziehsachen, Windeln und Fläschchen weichen. Der Esel und einige wichtige persönliche Gegenstände von Kai blieben. Man kann Lebensmittel und Kleidung nachkaufen. Kinderträume hingegen sind unersetzbar.
Ben wollte helfen, konnte aber nicht viel tun und zog sich zuletzt rauchend auf den Balkon zurück. Als es an der Tür klopfte, waren wir seit etwa einer halben Stunde abreisefertig und hatten einen letzten Kaffee getrunken. Der Soldat an der Tür war sehr höflich und bewies Fingerspitzengefühl. Er drängte uns nicht, als wir die Abreise noch ein paar Male hinauszögerten, um doch noch einige Dinge auszutauschen, die natürlich keinen Unterschied machten, uns aber etwas Zeit schenkten. Wir wurden schließlich in einen einfachen Linienbus verladen. Dort trafen wir auch andere Bewohner, alle genauso ahnungslos wie wir. Nach endlos scheinenden 20 Minuten fuhr der Bus schließlich los und Kai war eingeschlafen. Zu allen Seiten wurde der Bus von Bundeswehrsoldaten geschützt, die bis an die Zähne bewaffnet nebenher liefen, während der Bus im Schritttempo über das holprige Kopfsteinpflaster kroch. Die Fahrt verlief zunächst ereignislos. Erst als wir schon fast den Waller Ring erreicht hatten, torkelte aus einer kleinen Eckkneipe ein schrecklich aussehender Mann, der auf der Stelle respektlos einen der Soldaten angriff. Im Augenwinkel sah ich, wie der Mann kompromisslos niedergeschossen wurde. Ich war schockiert.
Auf dem Waller Ring gab der Busfahrer etwas mehr Gas. Wir überfuhren die Kreuzung an der Waller Heerstraße und stoppten auf dem Parkplatz kurz vor der Eisenbahnbrücke mit dem Waller Bahnhof. Für den Weg hätten wir zu Fuß vielleicht eine Viertelstunde gebraucht. Die Busfahrt hatte beinahe eine halbe Stunde gedauert.
Nachdem wir ausgestiegen waren, wurden wir angewiesen, uns in eine Schlange einzureihen. Die Schlange reichte vom Parkplatz bis zu dem Fahrstuhl, der hoch zum Waller Bahnhof führte. Der Waller Bahnhof war ein Hochbahnsteig. Alle Zugänge außer dem Fahrstuhl, der Platz für jeweils etwa eine Familie bot, waren abgesperrt und verriegelt, sogar die Treppen waren blockiert. Der Bereich unter der Eisenbahnbrücke war zweigeteilt. Auf der einen Seite war der Bahnhofsbereich mit dem Fahrstuhl an seinem Ende, auf der anderen Seite verlief die Straße. Getrennt waren beide Teile durch eine etwa einen Meter hohe Mauer, auf der die Säulen standen, die die Brücke stützten. Da momentan mal wieder saniert wurde, war der Bahnhofsbereich mit einem etwa zwei Meter hohen Zaun umgeben. Im Schneckentempo bewegte sich die Schlange vorwärts. Niemand von uns redete viel. Die Stimmung war angespannt und bedrückend. Schließlich waren wir an der Reihe. Katie und Kai stiegen zusammen mit einem anderen Ehepaar in den Fahrstuhl. Da kein Platz für weitere zwei Personen war, mussten Ben und ich warten. Den Reiserucksack gab ich ihr mit.
»Bis gleich, Schatz. Wir sehen uns oben.«
Während wir warteten, sah ich mich ein wenig um. Der Baustellenzaun war von den Einsatzkräften verstärkt und mit Stacheldraht umspannt
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