Stahlhexen
Evie Dunton gewesen waren.
Unter einem der breiten Fenster stand jemand neben den Wandgemälden. Es war ein sehr alter Mann, um die neunzig vielleicht. Er stützte sich auf einen Stock, das Gesicht mit den Hängewangen war von tiefen Falten durchzogen und die Augen hinter den großen Kunststoffgläsern seiner Brille kaum zu erkennen. Er trug eine flotte Fischerkappe, einen gestreiften Pullover, der sich über seinem Bauch wölbte, ausgebeulte Kordhosen und Sandalen mit Wollsocken. Er sah definitiv aus wie ein Künstler.
»Mr Tilney?«, sprach Fletcher ihn an.
Dieser musterte ihn angestrengt durch seine Brillengläser. »Wer sind Sie? Und woher wissen Sie von den Stahlhexen?«
Mia stellte sich und Fletcher vor. »Hat Daisy Seager Sie aufgesucht?«, fragte sie dann.
»Daisy, ja. Was für eine Schönheit. Sie sagte, es würden vielleicht auch noch andere Leute kommen.«
»Wir haben Evie Duntons Aussage gelesen. Wir wollen gerne wissen, was auf dem Luftwaffenstützpunkt vorgefallen ist und was das große Geheimnis war. Haben Sie die Flugzeuge mit den Stahlhexen bemalt?«
Gregory strich sich das Haar glatt und nickte. »Die Stahlhexen. Ja, die habe ich gemalt. Und Evie hat mir alles erzählt, alles, was vorgefallen ist. Sind Sie hier, um mich danach zu fragen?«
»Evie hat behauptet, dass Sie das Geheimnis kennen, das große Geheimnis.«
Gregory nickte langsam. »In der Küche steht eine Flasche Rum, mein Kind. Wie es mit Ihnen steht, weiß ich nicht, aber ich brauche einen Drink.«
»Wir haben keine Zeit für so was«, sagte Fletcher. »Ich breche jetzt auf und suche Aspen und meine Mutter.«
»Warte doch, lass uns hören, was passiert ist. Vielleicht hat es mit Aspen zu tun, mit der Geschichte, die er vertuschen möchte. Vielleicht gehört das hier auch noch zur Aussage des Mädchens.«
Fletcher wägte ab. Er blickte zu den großen Wandgemälden mit den stilisierten Menschen auf, die sich über ihre Arbeit beugten.
»Beeilen Sie sich bitte«, sagte er.
Sie setzten sich in abgewetzten Sesseln um einen alten Paraffinofen. Inzwischen hörte man selbst hier das Heulen des Sturms, der wahre Regenbrecher gegen die Fensterscheiben jagte.
»Die Betonwände sind über dreißig Zentimeter dick«, sagte Gregory. »Und das Fundament geht bis zum gewachsenen Fels hinunter. Ich werde von hier sehen, wie der Orkan losbricht. Bei Sonnenaufgang hat man perfekte Sicht. Ich schlafe nicht mehr viel. Mache eigentlich nur noch Nickerchen. Aber wenigstens bin ich unabhängig. Eine Zeit lang war ich in einem Heim, in Hanchton ...«
»Sie wollten uns von den beiden Schwestern erzählen«, unterbrach Mia ihn.
»Die Schwestern, ja. Sally und Evie.«
»Haben Sie die beiden gekannt?«
»Oh ja. Ich weiß genau, was passiert ist. Wir waren gleichaltrig, die beiden und ich. Ich bin 1922 in Hanchton geboren.« Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem war ich nicht der älteste Heimbewohner. Eine Frau dort war 1910 zur
Welt gekommen. Aber die wurde immer mit Medikamenten ruhig gestellt, und dann haben die immer ihre Unterschrift gefälscht.«
»Wussten Sie über die Duntons Bescheid?«
»Die Duntons, ja. Der kleine Weiler dort war jahrhundertelang bewohnt. Da hatte Evie vollkommen recht. Es waren einige wenige Familien, die dort Ton gruben. Zum größten Teil für die Backstein- und Ziegelherstellung. Billiges Zeug. Geschichten gab es seit jeher über diesen Ort - Hexen, so was eben. Der Weiler hatte hier in der Gegend auch einen besonderen Namen: Hexland. Kleine Weiler wie dieser haben sich im 19. Jahrhundert allmählich entvölkert. Schließlich war vor hundert Jahren nur noch ein einziges Haus übrig. Nur das Haus, der Hof und die paar Felder, die sie besaßen. Eigentlich hätte auch diese Familie irgendwann verschwinden müssen. Aber die Großmutter. Die Granny. Du meine Güte.«
»Haben Sie sie kennengelernt?«
»Ich?« Gregory Tilney lachte keuchend und nahm einen tüchtigen Schluck. »Ich war der Sohn eines städtischen Verwaltungsdirektors und für die Höhere Schule bestimmt. Ich bekam Malunterricht. Privat bezahlten Malunterricht. Von Leuten wie Granny hielt man mich fern.«
»Warum?«, fragte Mia. »Was hatten die Leute denn gegen sie?«
»Sie hat versucht, da rauszukommen, verstehen Sie. Sie wollte da raus. Die Leute sagten, als sie jung war, versuchte sie, aufs College zu gehen und Lehrerin zu werden. Aber das war im 19. Jahrhundert und in Norfolk auf dem Land. Es war ein zu großer Sprung. Für sie gab es keine andere
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