Stahlhexen
möglichst auch eine Landkarte mit größerem Maßstab, auf der man vielleicht noch ein paar weitere Details erkennen kann. Es sieht so aus, als würden da keine Gebäude mehr stehen, zum Beispiel fehlt ein Kontrollturm. Und was ist das da?«
Weiter östlich war in Blau ein fast kreisrunder, kleiner See eingezeichnet. Die winzige Beschriftung darunter lautete einfach nur: »Grube«.
Sie versuchten, eine Satellitenaufnahme der Gegend zu finden, um sich einen Überblick von oben zu verschaffen. Doch der Satellitendienst meldete: Leider können wir Ihnen derzeit noch keine detaillierten Bilder dieser Region anbieten. Versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt.
Fletcher schaltete den Computer aus.
»Zieh deinen Regenmantel an, Mia. Wir gehen zu einem Laden in der All Saints' Passage.«
»Was für ein Laden denn - noch so eine rumänische Schnüfflerin?«
»Ich war selbst noch nie drin. Aber mir ist dort ein Schild im Schaufenster aufgefallen.«
»Und auf dem Schild steht: Wir sagen Ihnen die Zukunft voraus und enthüllen Ihnen Ihr Schicksal?«
»Nein. Da steht: Antiquariat für Land- und Seekarten. Vielleicht haben die eine ältere Karte der Gegend, auf der man sieht, was dort früher mal war.«
Mia holte ihr Ölzeug heraus - ein Regencape im Armee-stil, das sie eigens fürs typisch englische Wetter besorgt hatte. Der Segeltuchstoff fühlte sich rau an unter ihren Fingern. Genau das richtige Gefühl.
Sie gingen zu Fuß ins Zentrum von Cambridge. Fletcher, der die Hände in die Parkataschen gesteckt hatte und die Stadt unter dem Pelzrand seiner Kapuze hervor betrachtete, kam heute alles anders vor als sonst, irgendwie fremd. Das lag nicht an dem strömenden Regen, der aus dem stahlgrauen Himmel herniederprasselte, und auch nicht an den zischenden Fontänen des Straßenverkehrs, dem Plätschern in den Rinnsteinen oder daran, dass die Straßenlaternen schon lange vor Einbruch der Dunkelheit brannten. Sondern an den Leuten: Die rannten fast und hielten schützend die Hände über den Kopf, als regnete es eine ätzende Säure. Fletchers Parka war wasserdicht und Mias Regencape hielt der Nässe offensichtlich ebenfalls stand. Als sie am Straßenrand standen und darauf warteten, dass sie hinübergehen konnten, sah er sie an, sah ihr Gesicht unter der Kapuze, und lächelte. Sie erwiderte seinen Blick und zwinkerte ihm zu.
Im Zentrum selbst flössen die Rinnsteine inzwischen über und in der Sidney Street schoss Wasser aus einem überfluteten Hydranten. Die All Saints' Passage - ein kleines, dicht gedrängtes Ensemble mittelalterlicher Fassaden - sah aus, als wäre ein altes Dorf vom Meeresgrund hochgezogen worden. Die Fenster des Land- und Seekarten-Antiquariats waren beschlagen, aber drinnen war es warm und trocken und roch nach Papier. Eine Ladenglocke läutete, als sie die Tür hinter sich schlossen und sich im Laden umsahen. Der Raum war in wahre Regalschluchten unterteilt, und dazwischen standen Ladentische mit Stapeln alter Landkarten und historischer Drucke.
Der Ladenbesitzer stand hinter einer altmodischen Kasse und begrüßte sie mit finsterer Miene.
239»Norfolk?«, fragte Fletcher.
»Sie werden mir die Karten nass tropfen.«
Der Mann sah zu, wie sie ihre Regensachen aufhängten und Mia das Wasser aus den Haarspitzen schüttelte. Dann deutete er mit einem Nicken auf einen Gang im hinteren Teil des Ladens.
Dort fanden sie einen Ladentisch, über dem das Schild Norfolk an der Wand hing, und blätterten die antiquarischen Sachen durch, die alle in einer eigenen Plastikhülle steckten. Zum größten Teil handelte es sich um alte Drucke und Radierungen, deren Preis von zittriger Hand mit Kugelschreiber notiert war. Fletcher ging den Stapel durch und las dabei jede einzelne Bezeichnung.
»Was suchen wir eigentlich genau?«, fragte Mia.
»Jede Karte, die die Küste in der Nähe von Hanchton abbildet. Je älter, desto besser. Und bitte nicht tropfen.«
Sie blätterten weiter. Fletcher fand einige Drucke der Kathedrale von Norwich und die Radierung eines Rettungsbooteinsatzes auf See aus viktorianischer Zeit.
»Was hältst du davon?«
Mia hielt eine Generalstabskarte von North Norfolk aus dem Jahr 1946 in der Hand. Ein Jahr nach Kriegsende.
»Vielen Dank, Mia.«
Sie faltete die Karte auf und verzog das Gesicht, als ihr ein modriger Geruch in die Nase stieg. Fletcher breitete die Karte aus und verglich sie mit seiner modernen. Es gab interessante Unterschiede. Auf dieser Landkarte aus den vierziger
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