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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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hatte, las uns Feuchtwanger zwei extrem lange Kapitel aus seinem Goya-Buch vor, wobei er seine schrille Stimme kaum variierte. Thomas Mann allerdings wollte nicht mit sich rächen lassen und schlief mit halboffenen Augen ein, die kalte Zigarre zwischen seinen Lippen, die stets von den Spuren eines Magenpulvers gezeichnet waren. Als wir später zum Auto zurückgingen, wandte er sich mir zu: «Junger Mann», sagte er, «haben Sie die Perfektion der Einrichtung bemerkt, die 18 000 ledergebundenen Bücher, alle von ihm nicht nur gelesen, sondern auch verstanden und im Gedächtnis behalten; die abwechslungsreichen Schreibtische, einer, um im Liegen zu schreiben, ein anderer, um sitzend zu schreiben, ein dritter zum Stehen, und die prächtigen Schreibutensilien, die verschiedenen Schreibmaschinen, die Batterie von Federn, Bleistiften, Radiergummis, die erlesene Qualität des Papiers, die raffinierte kleine Nische für die Sekretärin, immer zur Hand, der Blick über den Pazifischen Ozean, der Duft der exotischen Flora, diese riesige, diskrete, immer hilfreiche Frau, die mich an einen Indianerhäuptling erinnert, und was kommt bei all der Vollkommenheit heraus? Reine Scheiße.»
    Die Bücher. Der neidige Thomas Mann hatte schlecht gezählt: Es sind zirka 40 000 Bände; alles Erstausgaben. Wohl die größte Privatbibliothek dieser Art auf der Welt. Ein Haus erzählt – und was es erzählt, im wienerischen Tonfall des Sherry kredenzenden Chinesen in schwarzer Seide, macht traurig und etwas frösteln: eine Insel Europa, ein Herzstück
unserer
Kultur, hinausgejagt ins Land der leckeren McDonald’s-Hamburger und des Kunstrasens. «Sehen Sie, das ist eine Sophokles-Ausgabe aus dem Hause Michelangelos – mit handschriftlichen Notizen von ihm»; «hier ist Rousseaus ‹Discours sur Porigine›, geschenkt von Beaumarchais an Benjamin Franklin, als er Botschafter in Europa war»; «und das ist Benjamin Franklins handschriftliche Komposition ‹Quartetto a 3  Violini con Violoncello› – Feuchtwanger schrieb ja über ihn, Sie wissen – ‹Füchse im Weinberg›; ‹der Beaumarchais war ja auch ein Büchernarr – da hat er nun seine reiche Gräfin geheiratet, und sich dann ruiniert an der siebzigbändigen Voltaire-Ausgabe; sehen Sie, hier steht sie.›»
    Es ist zum Weinen und zum Lachen. Jeder stellt sich ja sein eigenes Paradies vor – der eine vielleicht als ein Meer von Mousse-au-chocolat, der andere vielleicht als Non-stop-Surfen, ein Marathon-Bayreuth oder eine nie endende Marlene-Retrospektive; ich stelle es mir
so
vor, und hier ist es nun Wirklichkeit, 520  Paseo Miramar, Pacific Palisades, California: Die Hollingshed’s Chronicle, denen Shakespeare seine Königsdramen entnahm, und das winzige Büchlein von Schillers Musenalmanach mit dem illustrierten Erstdruck der «Geschichte des Dreißigjährigen Krieges» und Flavius Josephus, «des hochberühmten jüdischen Geschichtsschreibers Chronik» und Alfred Kerrs «Gedichte gegen Verleger» (die kein solcher verlegen wollte), mit Johann Strauß’ Vertonungen und und und. Das Haus erzählt, und man versinkt – auch in einer großen Traurigkeit. Das war auch einmal Deutschland, so etwas stand einmal in Berlin, und sie haben es doch auch
uns
weggenommen, so, wie sie aus Thomas Manns Haus einen SS -Puff und aus Heinrich Heine den «unbekannten Dichter» gemacht haben. Da steht man, in diesem Ledermeer aus Phantasie und Leid und Komik, aus Verlockung und Verderb und Hohn und Lächeln, Jahrtausende haben es erschaffen, auf daß die Menschen gereinigt würden, und einer hat es gesammelt mit sonderbarer Leidenschaft – und ein tausendjähriges Reich von zwölf Jahren hat es mit der Stahlrute zerfetzt und verjagt und vernichtet.
    Denn nicht um die Bücher geht es. Die sind ja da – «Bei Erdbeben fielen die nie raus», flüstert der Chinese, «sie stehen zu eng» – und die University of California bekommt es alles, Haus und Bibliothek und Handschriften und Archiv und noch zwei Millionen Dollar dazu. Es geht um den Geist, der das trug, um das so störbare Gewebe einer großen Kultur, das sie uns zerrissen haben.
    Ein Haus raunt. Es spricht noch, wenn es schweigt, wenn der Abend niedersinkt, die Sonne wie eine Sunkist-Reklame ins Meer zischt; da stand auf den Klippen über dem Strand, Abend für Abend, ein anderer Emigrant – Leonhard Frank – und sagte: «Dort drüben liegt Europa»; und niemand traute sich, ihm zu sagen, daß er «auf der falschen Seite

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