Stahlstiche
Sie wirken zu nahe an der Realität entlang geschrieben. Seine Memoiren liefern den Beweis für diesen Verdacht, man habe es streckenweise mit dem Logbuch eines Weltreisenden zu tun, fremd gemacht lediglich durch die pittoreske Kulisse, nicht durch Kafkas Fremdheit. Es gibt Dutzende von Situationen, Personen, Ereignissen, sogar Anekdoten, die sich geradezu wörtlich als Notat der Lebenserinnerungen wie als Einsprengsel in die erzählte Welt finden; etwa die Szene des magischen Tanzrituals am Ende des Romans «So mag er fallen». In seinem Nachwort zu diesem Roman hat Bowles übrigens selber über diese Dialektik von Wahrheit und Wirklichkeit nachgedacht und schließlich eingestanden, daß er vorhandene Modelle verschnitten hat.
Das ist ein so legitimes Mittel wie althergebrachtes Verfahren, dessen sich Tolstoi wie Flaubert, Thomas Mann wie Proust bedienten; die Literaturwissenschaft nimmt sich heute einen geradezu detektivischen Ehrgeiz, um zu entschlüsseln, wer nun die Urbilder für Anna Karenina oder Madame Bovary, den Senator Buddenbrook oder Monsieur Charlus waren, und die Nachwelt ist voll von empörten Petersburger Adligen wie beleidigten Lübecker Tanten, die sich portraitiert und karikiert fanden. Vielleicht ist es eine Frage der Entfernung, der Grenzüberschreitung.
Es ist wohl die ewige – unentschiedene – Streitfrage, ob Fotografie auch Kunst sei. In jedem Fall ist sie näher an der Realität. Jenen hauchdünnen Millimeter zwischen Apfel und Tisch, den Liebermann einmal als Wesen der Malerei definierte – sonst bliebe es eben ein Stück Obst auf einem Stück Holz und würde kein Bild: Den kann das Foto nicht erfassen. In diesem Sinne bleibt manches von Paul Bowles ein gleichsam geschriebenes Foto, eine O-Ton-Literatur, deren Minarett-Singsang vom Band läuft. Das hat dann der Beobachter aufgeschrieben. Paul Bowles war aber auch ein sehr genau bauender Künstler, der eigene Erfahrung kältete; dann hat er nicht aufgeschrieben, sondern
geschrieben.
Den hat er in einer Anekdote gefaßt, mit der er seine Lebenserinnerungen beschloß: «‹Auf Wiedersehen›, sagt der Sterbende zum Spiegel, ‹wir werden uns nicht mehr wiedersehen.› Als ich dieses Epigramm von Valéry in meinem Roman ‹Himmel über der Wüste› zitierte, schien es ein giftiges Stück Phantasie. Jetzt, da ich mich nicht mehr länger als ein Beobachter, sondern als Protagonisten ansehe, trifft es mich als Widerspruch. Zur Vervollständigung müßte der Sterbende seinem kleinen Abschiedsgruß drei Worte hinzufügen; und die wären: ‹Gott sei Dank.›»
DIE ZEIT , 44 / 26 . 10 . 1990
Weihnachten gingen wir zu Brecht
Lion Feuchtwanger im kalifornischen Exil
Die Tür öffnet ein kleiner Chinese mit beinern-zeitlosem Gesicht. Er bittet in perfektem Deutsch (mit leichtem k.u.k.-Akzent) ins Haus.
Das also ist es, und es ist mehr als ein Haus, ist ein sprechendes Fabelwesen, eine Mischung aus hoch auf den kalifornischen Felsen gestrandetem Schiff und Schatzkästlein, Feuchtwangers 1941 erbautes Haus in Pacific Palisades bei Los Angeles. Ein Haus, das erzählen kann. Durch den Mund des schönen, alterslosen Chinesen.
Es ist Lion Feuchtwangers drittes Haus. Das erste stand in Berlin im Grunewald, und als der Büchernarr die Bibliothek fertig eingerichtet hatte, mußte er weg; das war 1933 . Der weltberühmte Autor des «Jud Süß», dessen über zwei Dutzend Romane in 48 Sprachen übersetzt und dessen Bücher in der Sowjetunion in mehr als zehn Millionen Exemplaren verbreitet sind (vor Goethe der meistgelesene deutsche Autor) und der mit Brecht gemeinsam das «Kommunistische Manifest» in Verse setzen wollte – Lion Feuchtwanger, EK I. Klasse-Träger des Ersten Weltkriegs, mußte als einer der ersten Exilschriftsteller Haus und Stadt und Land verlassen.
Er ging nach Südfrankreich, er kaufte ein Haus in Sanary-sur-Mer, er richtete eine kostbare Bibliothek ein, und als alles fertig war, mußte er fliehen. Er kam in eines der berüchtigten französischen Internierungslager, dorthin, wo Walter Hasenclever sich tötete und von wo Willi Münzenberg in den Tod floh. Seine so bezaubernd schöne wie energische Frau, Dollars im Rocksaum und Flirt in den Augen für die französischen Bewacher, floh aus dem Frauenlager Gurs, in das man sie gesperrt hatte, wo man von erschlagenen Ratten und gebrannter Gerste lebte – flüchtete ins amerikanische Konsulat in Marseille. Dort lag ein persönlicher Brief von Präsident Roosevelt: «Ich
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