Stahlstiche
einer Silbe, entgelten lassen. Die Briefe und Eintragungen in das «Erinnerungsbuch» des Ehepaars Ossietzky, die hier in dem schlechthin mustergültig zusammengestellten Band VII «Briefe und Lebensdokumente» gesammelt sind, zeigen die Noblesse eines Charakters von beeindruckender Geradlinigkeit. Noch der KZ -Häftling tröstet seine Frau, umsorgt sie behutsam: kein Halbsatz der Klage. Respekt.
Das Werk
Der 1889 in Hamburg geborene, katholisch getaufte, protestantisch konfirmierte Carl von Ossietzky war früh ein Kämpfer. Seine ersten Bildungserlebnisse hatte der junge Hilfsschreiber und Bürogehilfe, der aus materiellen Gründen die renommierte Raumbaumsche Schule in Hamburgs Caffamacherreihe – wo heute der Unilever-Glaspalast steht – vor dem Abitur verlassen mußte, durch seinen Stiefvater, den elsässischen Bildhauer Gustav Welther, der Sozialdemokrat war; mit ihm hörte er August Bebel und Bertha von Suttner. 1911 schickte er an Rudolf Breitscheids Zeitung «Das freie Volk» seinen ersten Beitrag, von 1912 an war er – unter Hellmut von Gerlachs Chefredaktion – mit politischen Artikeln regelmäßiger Mitarbeiter. Mit 24 Jahren hatte er seinen ersten Prozeß wegen scharfer antimilitaristischer Artikel. Nicht zuletzt darin liegt das Spannende der Dramaturgie dieser Edition: Ossietzkys Weg ist ein spiralförmig sich entwickelnder.
Ein Meilenstein war wohl der Bruch mit dem bürgerlichen Pazifismus; aus dem im Herbst 1919 unter anderen mit Tucholsky und Emil Gumbel gegründeten Friedensbund der Kriegsteilnehmer formte er den Aktionsausschuß «Nie wieder Krieg», dessen dritte Kundgebung am 1 . August 1920 im Berliner Lustgarten zu einer Massendemonstration wurde – Hunderttausende nahmen teil. Ein Foto zeigt Albert Einsteins Frau, die eine Broschüre mit dem Titel «Nie wieder Krieg» verkauft (zu der Ossietzky einen Beitrag geliefert hatte – noch Jahre später nahm Göring Bezug auf diese Veranstaltung). Eine einzige Seite des Dokumentenbandes zeigt die Vielfalt – und die Verzahntheit – von Leben und Werk Ossietzkys: ein Brief an das Internationale Friedensbüro in Bern vom November 1919 : das Impressum der Zeitschrift «Völker-Friede» – «verantwortlich für die Schriftleitung ist Carl von Ossietzky»; die Geburtsurkunde der Tochter Rosalinde ( 24 . 12 . 1919 ) und eine traurig-nachdenklich-beschwörende Eintragung im «Erinnerungsbuch».
Wenn man sich der Mühe unterzieht, die journalistischen Arbeiten aus diesen letzten beiden Monaten des Jahres 1919 (in Band I) dazu zu lesen, dann punktiert sich eine deutlich erkennbare Linie. Aus dem bürgerlichen Pazifisten wird ein militanter Kriegsgegner, der mehr und mehr Einsicht gewinnt in die ökonomischen Mechanismen und Strukturen des «Kriegsgewinns», der im sozialen Gebäude Mehrwert heißt und im politischen Leben der jungen Republik Reaktion. Anfangs noch ledern formulierend – «… Diskussion über die Auffindung aller Möglichkeiten zur dauernden Festigung des Friedens» –, wird Carl von Ossietzky bald zu einem der geschliffensten Analytiker und kompromißlosesten Verteidiger der Weimarer Republik. Der «Weltbühnen»-Ossietzky ist alles in einem: ein hochgebildeter Intellektueller, der sich mühelos zwischen Richard Wagner, Mehrings «Lessinglegende», einer fulminanten Piscator-Rezension und Literaturkritik bewegt – wo gäbe es heute einen Leitartikler dieser Spannweite? –: ein hartnäckiger Warner, der etwa zu Zörgiebels «Blut-Mai» 1929 diese Zeugenaussage druckt: «Gesehen habe ich, wie die Polizei ohne Sinn auf Menschen einschlug, die absolut mit politischen Kundgebungen nichts zu tun hatten. Es scheint mir, daß die Beamten es vorerst auf jüdisch aussehende Passanten abgesehen hatten»: ein furchtlos treffsicherer Formulierer, dem das Gemüsemarkt-Wort «ausgewogen» glücklicherweise noch fremd war und der sich nicht scheut, Hugenberg einen «größenwahnsinnigen Industriedespoten» zu nennen, den Nationalsozialismus «eine reich dotierte Improvisation der Schwerindustrie» und «Deutschland das Land, wo die großen Nieten immer wieder kommen» – ach, was gäbe man darum, wenn jemand uns heute ein Gewissen machte mit so schneidenden Formulierungen wie «Wir haben nur ein kleines Heer, aber einen großen Militarismus» oder «Herr Breitscheid ist eine Bettschönheit, er verliert, wenn er aufsteht».
Ossietzky war aber kein Verbal-Clown und seine «Weltbühne» kein Zirkus mit Feuerschluckern. Er
Weitere Kostenlose Bücher