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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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mühsam die laufenden Arbeiten. Jedes Aufstehen am Morgen fällt mir schwer, aber ich tu’s dann doch: Ich stehe wirklich auf, und vergessen Sie nicht: daß ich, wann und durch wen weiß ich nicht einmal, metaphysisch geimpft bin. Brecht hätte das verstanden. In Moskau sagte mir einmal einer der vielen klugen Russen (der noch da ist) – Brecht wäre der letzte katholische, ich vielleicht der erste proletarische Schriftsteller. Da ist was dran. Hierzulande werden Moral, Ästhetik, Politik immer noch zu sehr getrennt.
    In dieser schwarzen hilflosen Nacht liest sich das wie ein «zur Person» und Vermächtnis zugleich. Da steht es alles, wie aufgereiht, jedes Element, aus dem sich das Werk eines großen Schriftstellers baute: eine seltsam weltliche Religiosität; eine ganz säkulare Metaphysik; eine robuste Volksnähe und die ständige Bekümmertheit um die öffentlichen Dinge, denen Böll sich nicht aufdrängte, die sich ihm aber aufzwangen. Rigorosität aus Gewissen.
    Daher
kam die Leuchtkraft seiner Literatur. Sie hatte etwas – geboren aus einer «Traurigkeit der Seele», wie er es einmal nannte? –, das dem Werk nur weniger Autoren innewohnt: integre Radikalität. Was Heinrich Böll schrieb, war nie
nur
Literatur. Das ist ein schwieriges Thema. Erfolg ist ja keine literarische Kategorie; es wäre sonst Konsalik ein großer Künstler. Aber, umgekehrt, ist Nicht-Erfolg auch noch kein Artistennachweis. In den Büchern des Heinrich Böll muß etwas nisten, was die Menschen brauchen. Er hat die Sprache für sie bewohnbar gemacht. Die seltene Identität von Autor und Werk ist ein Ereignis jenseits der geschmäcklerischen Zungenprobe. Heinrich Bölls Werk hat sich stets in der Balance gehalten zwischen der Phantasiehoffnung seiner Leser und dem Phantasieangebot seines Schöpfers. Böll selber hat ja diese Nicht-Verkunstung seiner Kunst definiert mit dem berühmt gewordenen, verblüfften Satz «Was – ich, und nicht Grass?», als ihn in einem kleinen griechischen Hafen die Nachricht vom Nobelpreis überraschte. Als die großen (hermetischen) Artisten der Nachkriegsliteratur gelten eher Paul Celan oder Arno Schmidt oder Uwe Johnson. Böll wurde gemeinhin die Rolle des kritischen Chronisten der Bundesrepublik zugebilligt, des Berichterstatters aus dem Land von Hunger und Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Remilitarisierung und schließlich jener Pershing-Rampe, gegen die der Nobelpreisträger in Mutlangen protestierte. Heinrich Böll ist der Balzac der zweiten deutschen Republik gewesen. Wie jener die Raff-Gesellschaft des Bürgerkönigtums portraitierte, so hat er den gigantischen Tanz des
Enrichissez-vous
der Nachkriegsära inszeniert.
    Das ist der probate Begriff für die Kunst Heinrich Bölls: Er ist Regisseur. Er erfindet nicht. Er findet. Er fügt Vorgegebenes, «erinnertes» Material zusammen. Seine Romane und Erzählungen leben vornehmlich von einem Impuls: dem des Erinnerns. Es ist nicht Suche nach verlorener Zeit, sondern nach verratener Zeit. Zeit: das ist, was wir
getan
haben. Also keine psychologische, sondern eine historische Kategorie. Eine Menschheit ohne Erinnerung ist für Böll der Alptraum der Geschichtslosigkeit. Auf die Frage eines Interviewers «Sie verstehen Schreiben nicht so sehr als autobiographisch, sondern biographisch – im Sinne von Teilnahme an Zeitgeschichte?» sagte Böll ein einziges Wort: «Ja.»
    Heinrich Böll ist kein psychologischer Schriftsteller und – bei aller großartig gelungenen Prosa – kein Autor des stilistischen Raffinements. Er ist ein Demonstrant. Indem er fragt, führt er vor – Verkrümmungen, Verfinsterungen und kleine Glimmfünkchen der Hoffnung. Die Kraft seiner Bücher wurzelt nicht im Ausloten individueller Strukturen, im Produzieren des abgründigen Einzelschicksals – sondern im beharrlichen Nachweis, daß die Gesellschaft das Individuum an den Rand drückt; es ist schuldhafte Existenz
per se.
Ein «Individuum» ist prompt Schimpfwort im deutschen Sprachgebrauch. Seine Leni ist keine Emma Bovary, eher eine Mutter Courage der Jetztzeit: nicht eine Gestalt, der unser Mitleid zu gelten hat, sondern eine Figur, die ihre Verwüstungen vorführt als solche, die die Zeit ihr angetan hat.
    Selbst ein Essay über Thomas von Aquin (in der ZEIT 1983 publiziert) bediente sich dieser dramaturgischen Technik des fragenden Demonstrierens:
    Einen wie Thomas von Aquin würde ich gern fragen: nach Atombomben, Auf-, Ab-, Nachrüstung, nach der Christlichkeit

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