Stahlstiche
christlicher Parteien, Drogen, Selbstmord, Leistungszwang, Fernsehen, Familie, Geburtenkontrolle, Terrorismus, Aufstand, Revolte, Revolution. Immerhin gab er dem Mundraub volle Billigung: «Im Falle äußerster Not sind alle Dinge gemeinsam. Deshalb darf der, der solche Not leidet, vom fremden Gut zu seinem Unterhalt nehmen, wenn er keinen findet, der ihm freiwillig gibt. Aus demselben Grund ist es erlaubt, etwas von fremdem Gut zu nehmen und davon Almosen zu geben, natürlich auch anzunehmen, wenn dem Notleidenden anders nicht geholfen werden kann. Wenn es allerdings ohne Gefahr geschehen kann, muß zunächst das Einverständnis des Besitzers eingeholt werden, und dann muß man für den Armen, der in äußerster Not ist, sorgen.» Die Frage wäre: Gibt’s nicht nur den Mundraub des einzelnen, auch den Mundraub ganzer Völker? Und wer hätte schon ohne Gefahr Somoza oder die Multis auch nur um ein Almosen angehen können? Die Antworten auf meine Fragen sind wohl
in nuce
in seinem Gesamtwerk schon enthalten, das man weiterdenken müßte. Die Vernunft, auf die er baute, die er voraussetzte, war wohl zu sehr die Vernunft mediterraner Prägung, Nachkomme der römischen
ratio.
Es gibt wohl mehr Vernunften oder Vernünfte als diese eine, die wir als unsere akzeptiert haben.
Wenn man das einen Essay nennt, so stimmt es nicht ganz. Auch birgt dieser Text nämlich eine Erzählung. Das ist ein zweites Geheimnis des Künstlers Heinrich Böll: Sein Menschenbild hat ganz direkte literarische Konsequenzen.
Seine Menschen sind nämlich allein. Das Werk ist förmlich durchsotten von Sätzen wie «Jeder auf dieser Welt steht außerhalb jedes anderen» oder: «Glück? Wir sind nicht geboren, um glücklich zu sein.» Bölls Konzept vom bindungslosen Menschen ist, ins Literarische übersetzt, ein un-episches Konzept. Die Schärfe und Gültigkeit der kurzen Form verdankt sich ja dem Kunstmittel des Be-deutens, Hinweisens; das Eklatant-Plötzliche statt einer schwellenden, auf- und ab-ebbenden Entwicklung. Bölls Figuren sind zu ihrem Schicksal verurteilt. Seine Menschen sind Sünder ohne Schuld, Täter und Opfer zugleich – es wird ihnen etwas angetan oder zugefügt. Liebe ist es meist nicht. «Ich habe Angst vor der Liebe», heißt es in «Wo warst du, Adam?». «Warum, fragte er leise: weil es sie nicht gibt – nur für Augenblicke.» Böll selber hat einmal die Kurzgeschichte als die ihm liebste, reizvollste Prosaform bezeichnet. Genau betrachtet sind sogar die großen Romane lose verbundene Additionen kleiner Erzähleinheiten. Ihre Helden bleiben ohne Entwicklung.
Da schließt sich ein Kreis. Denn die Kurzgeschichte ist das Instrument – weltlicher Predigt.
Deshalb arbeiten Heinrich Bölls Essays, Pamphlete, politische Artikel so
prima vista
unmerklich mit Partikeln des Erzählerischen; denn auch sie sind ja weltliche Predigten. «Er hat nichts getan. Er lebt nur» – ist das ein Satz eines Romans, einer Erzählung, eines Gedichts oder einer «Teilnahme»? Er könnte gesagt sein über Solschenizyn, den er aus dem Gulag holte, oder über den zu dreimal lebenslänglich und zusätzlich fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Ex- RAF -Mann Peter-Jürgen Boock, über den er dieses Gedicht schrieb:
Drei Leben
wo soll einer die hernehmen
wenn er nur eins hat
das erfordert
zwei Auferstehungen
oder zwei Wiedergeburten
kann ein Gericht die verordnen?
garantieren?
dreimal lebenslänglich
wo doch
real existierende Mörder
nur einmal lebenslänglich
ihre Pension beziehen
lebenslang dauert das Leben
nur einmal
dreimal
da verspricht das Gericht
mehr als es halten kann
Auferstehung Wiedergeburt
als was?
am besten uniformiert
als Mörder von Untermenschen
da lacht sich’s am besten
ins Fäustchen
mit Pension
allen Progressionen unterworfen
rechtens
darauf kann man pochen
poch poch poch
poch gnadenlos-ungnädig
wo doch da einer gesagt hat
Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist grausam
da lachen doch nicht nur die Hühner
lach lach lach
lach dich ins Fäustchen
wenn du rechtens und rechtlich
von deiner Pension
dein Drittauto
anzahlst
es hat sich gelohnt
ein real existierender Mensch zu sein.
Es ist aber – nicht zufällig in Büchnerschem Tone – das Ende seines Romans «Das Vermächtnis». Ihm zugrunde liegt die so unnachahmlich Böllsche Kategorie des Mitleids, das sich so anhört: «Wenn ich einen alten Freund hätte, den ich wirklich gern habe, vielleicht sogar lieb, und er
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