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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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christlicher Parteien, Drogen, Selbstmord, Leistungszwang, Fernsehen, Familie, Geburtenkontrolle, Terrorismus, Aufstand, Revolte, Revolution. Immerhin gab er dem Mundraub volle Billigung: «Im Falle äußerster Not sind alle Dinge gemeinsam. Deshalb darf der, der solche Not leidet, vom fremden Gut zu seinem Unterhalt nehmen, wenn er keinen findet, der ihm freiwillig gibt. Aus demselben Grund ist es erlaubt, etwas von fremdem Gut zu nehmen und davon Almosen zu geben, natürlich auch anzunehmen, wenn dem Notleidenden anders nicht geholfen werden kann. Wenn es allerdings ohne Gefahr geschehen kann, muß zunächst das Einverständnis des Besitzers eingeholt werden, und dann muß man für den Armen, der in äußerster Not ist, sorgen.» Die Frage wäre: Gibt’s nicht nur den Mundraub des einzelnen, auch den Mundraub ganzer Völker? Und wer hätte schon ohne Gefahr Somoza oder die Multis auch nur um ein Almosen angehen können? Die Antworten auf meine Fragen sind wohl
in nuce
in seinem Gesamtwerk schon enthalten, das man weiterdenken müßte. Die Vernunft, auf die er baute, die er voraussetzte, war wohl zu sehr die Vernunft mediterraner Prägung, Nachkomme der römischen
ratio.
Es gibt wohl mehr Vernunften oder Vernünfte als diese eine, die wir als unsere akzeptiert haben.
    Wenn man das einen Essay nennt, so stimmt es nicht ganz. Auch birgt dieser Text nämlich eine Erzählung. Das ist ein zweites Geheimnis des Künstlers Heinrich Böll: Sein Menschenbild hat ganz direkte literarische Konsequenzen.
    Seine Menschen sind nämlich allein. Das Werk ist förmlich durchsotten von Sätzen wie «Jeder auf dieser Welt steht außerhalb jedes anderen» oder: «Glück? Wir sind nicht geboren, um glücklich zu sein.» Bölls Konzept vom bindungslosen Menschen ist, ins Literarische übersetzt, ein un-episches Konzept. Die Schärfe und Gültigkeit der kurzen Form verdankt sich ja dem Kunstmittel des Be-deutens, Hinweisens; das Eklatant-Plötzliche statt einer schwellenden, auf- und ab-ebbenden Entwicklung. Bölls Figuren sind zu ihrem Schicksal verurteilt. Seine Menschen sind Sünder ohne Schuld, Täter und Opfer zugleich – es wird ihnen etwas angetan oder zugefügt. Liebe ist es meist nicht. «Ich habe Angst vor der Liebe», heißt es in «Wo warst du, Adam?». «Warum, fragte er leise: weil es sie nicht gibt – nur für Augenblicke.» Böll selber hat einmal die Kurzgeschichte als die ihm liebste, reizvollste Prosaform bezeichnet. Genau betrachtet sind sogar die großen Romane lose verbundene Additionen kleiner Erzähleinheiten. Ihre Helden bleiben ohne Entwicklung.
    Da schließt sich ein Kreis. Denn die Kurzgeschichte ist das Instrument – weltlicher Predigt.
    Deshalb arbeiten Heinrich Bölls Essays, Pamphlete, politische Artikel so
prima vista
unmerklich mit Partikeln des Erzählerischen; denn auch sie sind ja weltliche Predigten. «Er hat nichts getan. Er lebt nur» – ist das ein Satz eines Romans, einer Erzählung, eines Gedichts oder einer «Teilnahme»? Er könnte gesagt sein über Solschenizyn, den er aus dem Gulag holte, oder über den zu dreimal lebenslänglich und zusätzlich fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Ex- RAF -Mann Peter-Jürgen Boock, über den er dieses Gedicht schrieb:
    Drei Leben
    wo soll einer die hernehmen
    wenn er nur eins hat
    das erfordert
    zwei Auferstehungen
    oder zwei Wiedergeburten
    kann ein Gericht die verordnen?
    garantieren?
    dreimal lebenslänglich
    wo doch
    real existierende Mörder
    nur einmal lebenslänglich
    ihre Pension beziehen
     
    lebenslang dauert das Leben
    nur einmal
    dreimal
    da verspricht das Gericht
    mehr als es halten kann
    Auferstehung Wiedergeburt
    als was?
    am besten uniformiert
    als Mörder von Untermenschen
    da lacht sich’s am besten
    ins Fäustchen
    mit Pension
    allen Progressionen unterworfen
    rechtens
     
    darauf kann man pochen
    poch poch poch
    poch gnadenlos-ungnädig
    wo doch da einer gesagt hat
    Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist grausam
    da lachen doch nicht nur die Hühner
    lach lach lach
    lach dich ins Fäustchen
    wenn du rechtens und rechtlich
    von deiner Pension
    dein Drittauto
    anzahlst
    es hat sich gelohnt
    ein real existierender Mensch zu sein.
    Es ist aber – nicht zufällig in Büchnerschem Tone – das Ende seines Romans «Das Vermächtnis». Ihm zugrunde liegt die so unnachahmlich Böllsche Kategorie des Mitleids, das sich so anhört: «Wenn ich einen alten Freund hätte, den ich wirklich gern habe, vielleicht sogar lieb, und er

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