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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Beispiel?
    HRDLICKA : Ohne Skizze.
    FJR : Du hast keine vorherige Formvorstellung, wenn du vor so einem Stein stehst?
    HRDLICKA : Nein.
    FJR : Nun gibt der Stein doch aber Proportionen vor. Du kannst ja nicht größer erzählen, als der Stein es erlaubt. Wenn du ein erzählerisches Werk beginnst, sagen wir das Engelsdenkmal, das hat ja seine natürliche Grenze, übrigens anders als Papier … Bei Papier – nehmen wir mal deine riesigen Faust-Blätter, da hättest du ja noch größeres Papier nehmen oder ankleben können. Das geht beim Stein nicht, der ist einfach an einer Stelle zu Ende. Also reguliert doch der Stein auch die ästhetische Formation, oder nicht?
    HRDLICKA : Ich finde genau diese Begrenzung das Herrliche an dem Stein. Das heißt also, ich glaube, daß nur dort, wo Grenzen gesetzt sind – und ich finde eine sogenannte Kunst ohne Grenzen lächerlich –, die Kunst und die Kunstfertigkeit oder der Erfindungsreichtum entstehen kann. Es ist also nicht so, daß ich endlos was aussuche. Ich kann den nächsten Stein nehmen und kann das Thema unendlich variieren, denn auch wenn ich viel zeichne und radiere, die Skulptur ist die Sternstunde meines Themas. Bei Bildern ist das so: Wenn ich mich entschieden hab, was mir das Wichtigste, das Dominante im Bild ist, dann versuch ich dem Dominanten zu folgen. Meine Radierungen sind ja oft uferlos in ihrer Assoziierungswut und ihrer Überlegungswut und inneren Anhäufung. Aber die Sternstunde ist zu meißeln, und da ist die Begrenzung etwas unheimlich Wichtiges, weil der Erfindungsreichtum gebändigt werden muß. Man muß sich das genau überlegen, es ist oft so, wie wenn man sich eine Schachpartie überlegt: Habe ich das falsch gemacht, habe ich das richtig gemacht, ist die Kombination richtig, wo ist die Lücke in der Kombination – so sitz ich oft ein bißchen abgestumpft und dumm da und überleg mir, jetzt ist also der Arm so weit – die Linie läuft so. Beim Engelsdenkmal war’s besonders kompliziert, eine solche Masse in einen sehr begrenzten Stein zu schlagen. Ich hab die verschiedensten Tricks angewendet, ich hab fließende Proportionen genommen, ich bin hergegangen und hab den Stein so unübersichtlich gemacht – wenn man genau hinschaut, weiß man gar nicht, wie viele Figuren es sind. Wenn man die einzelnen Gliedmaßen zusammenzählt, sind es eigentlich nur wenige. Aber dieser formale Trick der Unübersichtlichkeit, der verschiedensten Größenordnungen auf engstem Raum – der Stein hat eine Grundfläche von 1  Meter mal 1 , 20 Meter – hat begonnen, die Sache zu komplizieren. Aber das ist das Schöne dran. Die Begrenztheit einer Möglichkeit und die höchstmögliche Erfindungskraft dazu.
    FJR : Du hast mir, glaube ich, einmal erzählt – jedenfalls hat mich das sehr beeindruckt, und ich wußte es vorher auch gar nicht –, daß Michelangelo sozusagen die Scheitelpartie der Skulptur von vornherein mit dem Ende des Steins konzipiert hat, ja, die Grenzen des Steins sogar bewußt benutzt hat. Gibt es solche Vorgänge auch bei dir? Daß du den Stein sozusagen als Grenze deiner Formkraft ansiehst – oder den Stein beispielsweise zerschlagen würdest?
    HRDLICKA : Es gibt von mir fast so viele kaputtgemachte oder nicht zusammengebrachte Figuren wie zusammengebrachte oder vollendete Figuren. Michelangelos David ist ein Weltwunder, obwohl von der Perfektion, von der Formerfindung her vielleicht andere Arbeiten von ihm überwältigender sind. Aber dieses Ausschöpfen der Möglichkeiten im Stein ist eine der großen Verführungen, und ich will noch einmal sagen, hier muß man beim Stein sehr vorsichtig sein. Es gibt Leute, die glauben, sie müßten alles ausnützen, jede Grenze, die sie im Stein haben, und daher machen sie dann ein Konzept, das sich eher Picasso annähert. Sie passen sich in die gegebene Form. Umgekehrt finde ich es viel lustiger. Zum Beispiel hab ich mal so eine Figur gemacht, einen riesigen Block, da tritt eine Figur
hinein,
sie kommt nicht
heraus,
sondern sie marschiert in diesen Block
hinein.
Die Räumlichkeit ist viel stärker, wie wenn ich den Rest des Steins wegschlage. Wie jemand, der in ein – ja, nicht in ein Loch, aber in eine unglaubliche Dimension
hinein
geht. Das ist die letzte Ausnützung aller Möglichkeiten. Das finde ich das Schöne daran. Es ist wie eine Rechenaufgabe. Eigentlich ist das Schöne an der Bildhauerei, daß man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, solange man an diesem Block arbeitet, denkt man

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