Stahlstiche
Naturalismusbegriff ist der einer Anhäufung von Details, und ich halte den für einen sehr dummen Begriff. Die Natur besteht ja nicht aus einer Anhäufung von Details; wenn du etwa in einen Raum hineinkommst, muß ich ja noch gar nicht deine Details sehen. Ich weiß, das ist der Raddatz. Das sehe ich aus deiner Haltung, aus deiner Bewegung. Für mich ist so ein Naturalismus ein großer Gesamteindruck. Das heißt also, der Naturalismus wurde immer verleumdet, als ob Leute sitzen und fitzeln und ein kleines Detail nach dem anderen machen – das ist doch Unsinn. Der Naturalismus ist der große Gesamteindruck. Die Bewegung, die Haltung, das Lebendige, das Ganze eben. Warum ich gegen Realismus bin, das muß ich zugeben, da bin ich ideologisch überfragt. Da gibt’s einen sozialistischen Realismus, das beginnt schon damit, daß ein Anspruch erhoben wird auf eine Darstellung, und kein Mensch weiß eigentlich, was das ist. Wenn man es genau weiß, ist es ein Etikett – wie abstrakt! Naturalismus ist was anderes, etwas Soziales. Abstraktion ist Kunst sowieso. Denken ist Abstraktion, denn man kann ja nicht alle Details mit einbeziehen beim Denken. Wenn du mit mir sprichst, schneidest du doch auch die Dinge so ab, daß sie faßbar sind. Naturalismus ist mir ein viel lieberes Wort, weil es sich nicht einfügt in diesen dummen Realismusbegriff, den ich immer bekämpft hab. Der Realismusbegriff war für mich immer etwas, das eigentlich eine vorgekaute Natur ist oder eine zurechtgerückte Natur. Ich find, die Natur ist nicht zurechtgerückt, man soll sie so nehmen, wie sie ist.
FJR : Kann es eventuell mit diesem Konzept zusammenhängen, daß mit deiner Arbeit häufig so viel – ich sag mal: Krach verbunden ist? Es gibt ja kaum eines der wichtigen Denkmäler, skulpturalen Portraits – angefangen beim Renner-Portrait in Wien bis hin zu Hamburg, vorher mit Engels in Wuppertal –, bei denen man nicht sofort denkt: immer Aufregung! Selbst bei Kleinbürgern, in deren Nachbarschaft eine Skulptur von dir im Garten steht. Die Kleinbürger erregen sich.
HRDLICKA : In deinem Garten …
FJR : Zum Beispiel. Oder irgendwo auf der Straße, wo deine Kunst beschmiert wird. Du selber hast, glaub ich, mal erzählt, in Stuttgart oder wo das ist …
HRDLICKA : … da gibt’s einen Spezialtrupp …
FJR : … da gibt’s ’ne eigene Kolonne, die das immer wieder abwaschen muß. Also muß es doch etwas spezifisch Aufregendes, Verstörendes geben. Ich meine, über Renée Sintenis’ Pferdchen regen sie sich ja nicht auf, oder über eine Diana mit Pfeil und Bogen und dem Reh davor. Was ist es, das die Leute so «auf die Palme» bringt, wie man in Berlin sagt, und zwar Politiker wie Betrachter?
HRDLICKA : Zum «normalen Betrachter» muß ich sagen: Es hat jetzt in Salzburg sechs Wochen lang eine Polemik gegeben um eine Kreuzigungsgruppe von mir, die Anfang der 60 er Jahre entstanden ist. Der Gekreuzigte selbst ist 1959 entstanden. Das Objekt sollte in der Nähe der Polizei aufgestellt werden, da brach der Streit los. Es hat protestiert der Bischof von Salzburg, der Landeshauptmann Haslinger, also was bei euch ein Ministerpräsident ist oder ein Oberbürgermeister wie Dohnanyi – also es hat alles protestiert, auch der Polizeipräsident. Mal wurde die Aufstellung abgesagt, mal wurde sie wieder aufs Tapet gebracht, es wird doch aufgestellt. Es ist unheimlich, daß Figuren, die 25 Jahre alt sind, immer wieder die gleichen Leute mobilisieren. Beim Gekreuzigten, den ich 1960 zum ersten Mal ausgestellt hab, haben sich die Wiener Aktionisten aufgeregt und gesagt, das sei eine billige Spekulation mit Religion und Sexualität. Also, es ist so verrückt, daß man das Lager gar nicht abgrenzen kann, wer sich alles darüber aufgeregt hat. Für mich ist das eine der merkwürdigsten Erfahrungen, vom Erzbischof bis zu den Wiener Aktionisten.
FJR : Gibt es eigentlich Leute, die sich in irgendeinem sozialistischen Land inklusive der Sowjetunion mit deinen Arbeiten beschäftigt haben? Es würde doch naheliegen, daß zum Beispiel auch in Moskau mal so ein Ding steht, oder?
HRDLICKA : Das kann ich schwer abschätzen. Ich war ein einziges Mal in Moskau, und wir haben versucht, sowjetische Kunst nach Wien zu kriegen. Das war leider ein Fehlalarm. Es ging nach rückwärts los. Wir haben das Ganze veröffentlicht, aber das tiefe Mißtrauen ist geblieben. Nicht gegenüber meiner Person, ich glaube, da drüben gibt es kein Mißtrauen gegen meine Person.
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