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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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begann eine Form von Rezeptions-Gischt. Man konnte nicht umhin, das Meisterliche zu erkennen, auch maulend anzuerkennen. Aber man liebte es nicht, so wenig man liebte, an Judenmord, millionenfache Vergehen erinnert zu werden, die viele, allzu viele begangen hatten. Auf den Theaterbühnen die beliebten Mimen des Dritten Reiches; auf der Leinwand Heimatfilm oder Schnulzen vom armen Landser; in der Literatur das Blümelein-fein-Tanderadei der Weinheber-Fabrikation: die ersten vier bis fünf Jahre, nachdem in blutrünstigem Wahn Deutschland die Welt angefallen, überfallen hatte, verharrte das Land in einem erinnerungsverweigernden Schweigen. Man wollte allemal noch einmal Marika Rökk ihr Röckchen lüpfen sehen – aber die «Verräterin» Marlene Dietrich wurde (bei ihrem ersten Deutschlandbesuch nach der Emigration im Hamburger Atlantic-Hotel) geohrfeigt; der Deutsche
par excellence
, der exilierte Thomas Mann, ward als «undeutsch», als «Amerikaner» in den großen Zeitungen verunglimpft – in deren Redaktionen fast ausnahmslos alte Nazis oder Hitleroffiziere saßen, die noch unlängst in Joseph Goebbels’ Zeitungen Hetzartikel publiziert hatten. «Stieke», ein wohl unübersetzbarer Berlinismus, war die Parole. Aber man war «anständig». In Massen hatte die deutsche
soldateska
zwar vergewaltigt, in Polen, in Rußland; hatte in KZ s gar Bordelle eingerichtet, um sich mit den «geilen Jüdinnen» zu vergnügen, bevor sie vergast wurden. Doch das war gelöscht gleich einer Gedächtnis-Tonspule.
    Dies das zweite Skandalon des Künstlers Wunderlich. Er hatte die Sexualität konfiguriert. Eines der Geheimnisse seiner «Federführung» war, daß er (in zahllosen Bildnissen) das Rückgrat des Menschen zeichnerisch betonte, den berühmten «aufrechten Gang» des Philosophen Ernst Bloch; aber auch dessen Verkrümmung, Verkümmerung. Und nun das Seltsame, wenn man will: Erschütternde. Sexualität – zumeist der Phallus – war in seiner Bildwelt eine zwar kopfgesteuerte Eigenschaft des Menschen; aber «bildtechnisch» hing sie eng zusammen mit Rückgrat. Seine Lithographie-Folge «Qui s’explique» führte das auf horrende wie verführerische wie bedrohliche Weise vor: ein Lemuren-Ballett, der Penis als Waffe, kein
joy-stick,
sondern Schreckensgerät; nicht Erlöser, sondern Verurteiler.
    Liebe und Liebesentzug: Die Blätter – es gab nur sechs Exemplare der Auflage – wurden umgehend vom Museum of Modern Art in New York erworben – und wurden 1960 von der Hamburger Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Der Siegeszug eines Künstlers hatte begonnen; im Ausland. Und eine Art Bewunderungshaß schlug ihm entgegen: in Deutschland. Schlagartig war Wunderlich im Ausland berühmt, als einziger deutscher Künstler wurde er zu Lebzeiten in die Pariser Académie des Beaux-Arts aufgenommen, der inzwischen legendäre Galerist Heinz Berggruen (mit dessen bedeutender Sammlung sich Berlin seit einigen Jahren schmückt) nahm ihn neben Picasso, Matisse und Miró unter Vertrag, seine Ausstellungen in London oder Madrid waren überfüllt. In Deutschland – Wunderlich lebte und arbeitete in Hamburg – gab es keine. Goldmedaillen für seine Graphik in Florenz oder Irland, Preise für Malerei und Lithographie in Rom oder Tokio, Taiwan oder Bulgarien: Wunderlich konnte sich bald mit Medaillen schmücken wie ein sowjetischer Marschall. In Deutschland blieb es beim Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein.
    Ich hielt dort die einstündige Laudatio, auch sie anstoßerregend. Das sollte jetzt der Moment sein, von meiner Beziehung zu diesem seltenen Freund zu sprechen, von einem luziden Geist, bewundernswerten Handwerker, einem Charakter sondersgleichen Zeugnis abzulegen; den Künstler und Menschen zu schildern, eine Freundes-Liebe, wie sie wohl sehr, sehr selten ist im Leben. Ich habe nun wahrlich gekannt, was man «die Moderne» nennt: Delvaux und Henry Miller; Genet und García Márquez; Renato Guttuso und John Updike; Francis Bacon und Pomodoro. Manchen war ich sehr nahe wie James Baldwin oder Günter Grass oder Alberto Moravia. Geliebt habe ich diesen einen. Verloren auch.
    Was war der
Nucleus
, die innere Kostbarkeit dieser Beziehung, die über fünfzig Jahre währte? Gewiß, er war bald weltberühmt, von Elton John über Yves Saint Laurent bis zu Fußball-Stars, Ballett-Ikonen oder Zauberern am Dirigentenpult reichten seine Sammler. Es war gar anrührend, wie bei einem Fest auf seinem schönen Besitz in der Provence, den der

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