Stahlstiche
Abschied an «Marie A.»:
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Nun will die Fama, daß Brecht dieses Gedicht im D-Zug geschrieben habe. Das tat er gelegentlich, nachgewiesen ist es von der «Ballade vom armen BB ». Aber die Legende will noch etwas anderes überliefern: Es sei der D-Zug München–Berlin gewesen, der Brecht zu Helene Weigel trug.
Auftritt Helene Weigel. Die aus begütertem Wiener Hause stammende Schauspielerin – sie beschäftigte schon als junge Unbekannte ein Dienstmädchen – lernt Brecht durch Vermittlung des Jugendfreunds Arnolt Bronnen im September 1923 in Berlin kennen; kurz vor Erscheinen der Buchausgabe von «Trommeln in der Nacht»: «Bie Banholzer» gewidmet. Brecht wohnt häufig bei Helene Weigel in ihrem Atelier in der Berliner Spichernstraße 16 (das sie ihm ab Februar 1925 überläßt). Im März 1924 gibt es auf Capri zwischen den Eheleuten Marianne Zoff/Bertolt Brecht eine Auseinandersetzung – Marianne wirft ihm Untreue vor, die Brecht vehement leugnet. Vier Wochen später besucht ihn Helene Weigel in Florenz: schwanger. Am 3 . November 1924 wird Sohn Stefan geboren (der Hegel-Forscher stirbt 2009 in New York). Im selben Monat lernt Brecht seine neue Geliebte Elisabeth Hauptmann kennen, der er zu Weihnachten 1925 das Hauptmanuskript von «Mann ist Mann» schenkt. Am 22 . November 1927 wird die Ehe mit Marianne Zoff geschieden, im April 1929 heiraten Weigel und Brecht (am 28 . Oktober 1930 wird Tochter Barbara geboren, die bis auf den heutigen Tag das Brecht-Imperium leitet). Brecht hat gefunden, was er für sein später so benanntes «gestisches Theater» braucht und was es eigentlich nicht gibt: einen bewegten Spiegel, der in Mimik, Vokalisierung und Körperhaltung sein Denken ver-lebendigt. Schon 1928 schrieb Alfred Kerr über Helene Weigel als Leokadja Begbick in Brechts «Mann ist Mann»: «Frau Weigel, Marketenderin, tut sich hervor: durch einen festen Dauerschrei; straffes Gegell; Peitschenton; Schenkelprofil; Prallsprung. Wacker.»
Falls Sterne geboren werden können: Hier ist eine interstellare Konstellation geboren, die der bewundernswert akribisch edierte Briefband dokumentiert. Die erstmals komplett vorgelegte Korrespondenz Brecht/Weigel gleicht einer Rhapsodie: anschwellend, zart, abschwellend, dräuend, aufgischtend, mal dröhnen Kommandos wie Pauken, mal wispern die Schlagzeugbesen und mal streichelt der Violinbogen. Wir erleben das Wunder einer Lebensliebe ohne Lebenslüge. Da Brecht selber zeitlebens auf eindrucksvolle Weise biblisches Vokabular verwendete, ist es vielleicht nicht frivol, von einer biblischen Bindung zu sprechen: an die Frau, die er liebte und betrog; die Schauspielerin, die er bewunderte und beherrschte; die Gefährtin, der er vertraute wie wohl keinem anderen Menschen. Helene Weigel war Bertolt Brechts Lebensmensch. Sie gehörten einander; unauflöslich ineinander verwoben im unzerstörbaren Spinnennetz aus Zartheit, Haß, Verfallenheit und Beutegier.
Allerdings – wie in allen Beziehungen Brechts zu Frauen, deren (Mit-)Arbeit er wie selbstverständlich in Anspruch nahm – «gehörte» die Weigel ihm etwas mehr als umgekehrt er ihr. Schon ganz früh ist der Ton seiner Briefe harsch-verlangend: Helene Weigel hat «Schwamm und Bürste» zu ordnen, Briefe (an Piscator und Herbert Ihering) abzuschreiben, «ruf auch sogleich Ullstein an» oder «erkundige dich» oder «schicke mir» oder «bitte hinterleg die genaue Adresse des Schuhmachers für mich» klingt die Tonleiter dieser seltsamen Liebesgregorianik. Selbst für den inzwischen 8 jährigen Sohn Frank, das kränkelnde Kind von Paula Banholzer, muß Frau Weigel einen Arzt besorgen; und wenn Brecht aus Augsburg avisiert: «ich werde zu Deinen letzten Proben da sein», finden wir in den mustergültigen Anmerkungen den Hinweis: «Brecht ist nicht anwesend bei den Endproben (zu Molières ‹George Dandin› im Theater am Schiffbauerdamm, in welchem Stück Helene Weigel die Claudine spielt).»
Wer als Leser in diesen Briefen lebt, lebt in einem Liebes-Zickzack; auch in einem existentiellen Chaos. Tatsächlich gibt es, auch nach der Heirat, auch nach der Geburt des
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