Stahlstiche
Du wirst beschuldigt, die Wahrheit gesagt zu haben.» Straßentheater also. Doch an welche Theateraufführung erinnert uns das? Ganz gewiß an Bertolt Brechts wohl einziges autobiographisch gefärbtes Stück über Galilei; dessen Discorsi sein Schüler Andrea hinter Virginias Rücken aus dem Hause trägt, ermahnt mit dem Satz: «Gib acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, mit der Wahrheit unter dem Rock.» Warum gaben wir bei Rowohlt dem tapferen Lektor Bernt Richter den Spitznamen Galilei? Er hatte in seiner Unterhose des widerständigen Robert Havemanns Manuskript «Dialektik ohne Dogma» aus der DDR herausgeschmuggelt, das wir dann verlegten. Die verschlungenen Schleichwege in die Freiheit schlängeln sich von Haiti über den Ostberliner Schiffbauerdamm bis in den Iran. Einer der führenden Autoren der iranischen Gegenwartsliteratur, Ali-Akbar Saidi Sirjani, der an den Folgen der Haft starb, schrieb bereits lange vor seiner Verhaftung eine Kurzgeschichte, die das eigene Schicksal vorwegnahm. Wir erfahren in dem Text eine fiktionale Wirklichkeit, also Wahrheit. Ein Schriftsteller wird von der Polizei abgeholt. Bevor sich die Gefängnistore hinter ihm schließen, richtet er an seine Frau eine Bitte; sie ist einen Satz lang:
Wenn Du mich morgen im Fernsehen siehst, wie ich meinen Verrat und meine Verbrechen gestehe, alle meine Lügen bekenne, mit denen ich die frommen Gläubigen irregeleitet habe, und meine geheimen Kontakte zum Ersten Sekretär der Russischen oder der Amerikanischen Botschaft gestehe und die Summen nenne, die ich für meine Spionagetätigkeit erhalten habe, dann – versprich es mir heute und hier – darfst Du nichts davon glauben und nicht öffentlich gegen mich auftreten.
Wer nicht schon in der Brecht-Premiere fror, friert jetzt.
Es gibt keine Genre-Grenzen für das, was wir unter Kassiber zu verstehen haben. Auch ein Film kann das sein. Etwa Volker Schlöndorffs «Das Meer am Morgen», der kürzlich in die Kinos kam. Wer aber bei dem so behutsam wie entsetzlich ausgezirkelten Bericht über die Erschießung der 150 französischen Geiseln, von Hitler persönlich angeordnet als Rache für das Attentat auf einen Offizier der Nazi-Okkupanten in Nantes, der Jüngste ein 17 Jähriger: Der Abschiedsbrief von Guy Môquet, ermordet im Oktober 1941 , ist heute in allen Schulen Frankreichs Pflichtlektüre – wahrlich, ich sage euch: Wer beim Anschauen dieses grausigen Dokuments keinen Riß in der Seele bekommt: der hat keine Seele.
Sie sehen, meine Damen und Herren: Ich bin selber nichts als ein einziger Kassiber.
Rede, gehalten am 27 . September 2012 im Deutschen Literaturarchiv Marbach zur Eröffnung der Ausstellung «Kassiber. Verbotenes Schreiben»; erschienen im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, hrsg. von Wilfried Barner, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp, Ulrich Raulff, Bd. 57 , Marbach a. N., 2013 .
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Hinterglasmalerei. Erzählbilder
Erzählbild Brecht
«Ich bitte Helli, folgendes zu veranlassen»
Über den Briefwechsel von Bertolt Brecht und Helene Weigel
Zuvörderst ein Intim-Leporello; kleiner Wegweiser für verworrene Lebenswege. Im Juli 1917 verliebt sich der 19 jährige Brecht (der sich noch forsch Bert nennt) in Paula Banholzer, der er mehrere Kosenamen verleiht: Paul Bittersüß, Bie; er hat gleichzeitig zwei weitere Liebesabenteuer. Im Juli 1919 kommt beider Sohn Frank zur Welt (der 1943 als deutscher Soldat an der sogenannten Ostfront fällt). Seit 1920 lebt Brecht mit Marianne Zoff zusammen, die er im November 1922 heiratet; die gemeinsame Tochter Hanne wird im März 1923 geboren (wir Späteren kennen sie als Hanne Hiob – sie überdauerte die Nazizeit in der Obhut des Ufa-Stars Theo Lingen). Kurz nach der Geburt lernt Brecht bei Freund Feuchtwanger die junge Schriftstellerin Marieluise Fleißer kennen, mit der er ein Verhältnis beginnt. Das berühmte Gedicht «Erinnerung an die Marie A.» – und hätte Brecht nur dieses eine wundersame Meisterwerk verfasst, er wäre damit bereits im Olymp der deutschen Literatur –, dieser Erinnerungszauberspruch galt keiner dieser diversen Geliebten. Es war Marie Rose Aman – eine der «Nebenfrauen» zu Bie –, der er es ungenannt widmete; die fast unheimliche Melodie erinnert durchaus an die spätere «Ballade vom ertrunkenen Mädchen» – «die Gott allmählich vergaß; erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt ihr Haar». Hier singt Gott Brecht. Daher der verwehte
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