Stahlstiche
heute das Modewort «globalisieren» leicht abgegriffen klingt, kann man hier sehen, daß es schon eine Weltökonomie zu Zeiten des 19 . Jahrhunderts gab. Nicht immer war alles ganz falsch, was Karl Marx gesagt hat: Von «globalisieren» – übrigens interessanterweise in dieser vokabulären Prägung – ist schon bei Karl Marx die Rede.
Nun, Günter Grass hat nicht Karl Marx gelesen, als er in Indien war. Sehr interessant, was seine Lektüre war, was den Moll-Ton noch einmal in ihm so sehr bestimmt hat: Es war Lichtenberg und es war Schopenhauer. Das sind ja wahrlich nicht die feixenden Optimisten der deutschen Literatur und der Philosophie, sondern es sind düstere Kalligraphien im Geiste, und daß Grass sich zu dieser Zeit mit denen so intensiv beschäftigt hat, ist natürlich auch ein Echo auf sein Erlebnis Bundesrepublik. Denn als er nach Indien ging – keineswegs flüchtend und sich vergrabend, alles Quatsch, alles von Journalisten erfunden, die Koffer waren lange gepackt, bevor die Verrisse der «Rättin» erschienen, der Plan war lange gefaßt –, war ein Movens durchaus der Verdruß an den Zuständen in der Bundesrepublik. Das ist eine hochinteressante Spiegelung, die Sie immer wieder durchscheinen sehen können in diesen Blättern, der Verdruß, was hier passiert, gegengespiegelt mit dem, was unsere Welt, unsere hochindustrialisierte Welt diesen Menschen angetan hat.
Und das bedeutet, daß der Ton, wenn man mal bei Zeichnungen von Ton sprechen darf, der der Epiphanie ist. Es ist sehr interessant, daß Grass einmal fast im Gebetston sagt «Müll unser», eine böse Umwendung des «Vater unser». Aus diesem Gefühl heraus baut er ein Golgatha von Krötenmenschen und sagt «Schwärze zu Schlußverkaufspreisen». Das hergestellte Elend ist für ihn ganz wichtig. Ich meine, wenig zu übertreiben, wenn ich sage, daß das Ensemble seiner Calcutta-Notate, das echte Tagebuch, die Blätter und das Gedicht, fast Günter Grass’ politischstes, direktestes Buch-Kunstwerk sind.
Ich lese Ihnen einen Brief vor, einen unveröffentlichten Brief, den er mir sehr kurz nach der Ankunft dort geschrieben hat:
Lieber Fritz,
nun schlafen wir also unterm Moskitonetz, laufen in luftigen weißen Pyjamas mit Jonnas herum, fahren zum Markt mit der Fahrradrikscha, essen Linsenbrei und Fladenbrot und schwitzen von früh bis spät. Unser gemietetes Gartenhaus liegt etwa 20 Kilometer südlich von Calcutta, doch per Vororteisenbahn sind wir in 40 Minuten im Stadtzentrum. Diese Eisenbahn hat es in sich: ständig überfüllt, verrottet und verdreckt, hebt sie dennoch die Kastenunterschiede der hiesigen Gesellschaftsform auf; die gutsituierte Brahmanen-Frau steht zwischen «Unberührbaren», niedliche Schulmädchen zwischen Lumpenkinder gemischt. Jeden zweiten Tag fahren wir in das lärmige Riesendorf Calcutta, in dem die Kolonialpaläste und -häuser von Jahr zu Jahr mehr vergammeln. Tags darauf erholen wir uns dann auf unserem «Landsitz», der von einem Gärtner mit Frau betreut wird, die Gärtnersfrau putzt das Haus, sonst haben wir zum Glück kein Personal, wie es hier üblich wäre, etwa Koch und Diener, übernehmen müssen. Auch in Baruipur stehen armselige Hütten neben zum Teil ruinenhaften Kolonialvillen, doch ist hier alles zwischen Wasserteichen grün umwuchert. Wir sind weit und breit die einzigen Europäer; wie überhaupt Calcutta kein Ort für Touristen ist. Ab Mitte Oktober soll sich das Klima bessern, weniger feucht und heiß. Doch bis dahin werden wir für eine Woche ans Meer nach Puri, in den benachbarten Bundesstaat Orissa reisen. Auch andere «Ausflüge» sind geplant, nach Bangladesh und nach Birma und, falls die politischen Unruhen dort aufhören, nach Darjeeling, wo der Tee, den wir gedankenlos trinken, herkommt.
Es stimmt, lieber Fritz, wir sind weit weg, und manchmal, wenn sich Ute und ich in aller Liebe schweißdurchnässt sehen, kommen wir uns verloren vor; als hätten wir uns freiwillig in die Verbannung begeben. Andererseits fordert mich diese Strapaze, weil sie so unausweichlich ist.
Einige Zeichnungen sind entstanden. Ich führe mein Tagebuch. Außerdem lese ich viel; als kühlende Erfrischung: Lichtenbergs Sudelbücher.
Am Morgen, zum Frühstück, liegt pünktlich «The Telegraph» vor, eine recht gute Tageszeitung, in der die Bundesrepublik nur im Sportteil in Gestalt von Boris Becker vorkommt. Und da uns bis heute noch keine Post erreicht hat, ist uns Deutschland in doppelter Ausfertigung
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