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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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ziemlich abhanden gekommen. Nein, lieber Fritz, wir laden Dich nicht ein, hierher zu kommen; das ist kein Ort für Dich! Aber schreib uns bitte. Solltest Du aber trotzdem kommen wollen: wir haben ein Gastzimmer mit Ventilator und einen Kühlschrank, in dem immer Obstsaft und Obstsalat kalt stehen.
    Ute und ich, wir umarmen Dich. Grüß bitte Gerd und die Wunderlichs und Frau Schulze und sonst niemand.
    Dein Günter.
    Eigentlich ein ergänzendes Dokument, wenn Sie so wollen, weswegen ich mir erlaubt habe, obwohl es ja eigentlich ein Privatbrief ist, es Ihnen vorzulesen – eine Ergänzung wie ein Blatt von dem Papier, auf dem er gezeichnet hat.
    Nun aber zur «Kunst». Leid kann man ja eigentlich nicht schön machen, und über diesen Prozeß ist sich Grass durchaus im klaren gewesen. Es gibt einen Satz bei ihm, in dem er sagt: «Die letztmögliche Schönheit stellt alles, was anerkannt als schön gilt, in Frage.» Und das heißt, Günter Grass hat gleichsam ein umgekehrtes Verfahren gewagt. Er hat sich, ich sage das jetzt mal kühn, in die Tradition der George Grosz oder Otto Dix, des frühen van Gogh mit seinen Bauernbildern, von Millet oder von Menzel gestellt, die ja alle unschön gearbeitet haben, die ja alle der Fratze dieser Welt, der Erbarmungslosigkeit dieser Welt ihre Tür geöffnet haben. Nicht «Les Demoiselles d’Avignon» – immerhin ein Bordellbild, also nicht gerade der Tee-Salon zu Bremen, aber doch durch Kunst geschönt: womit ich hier keinen kleinen attackierenden Essay über Picasso einfließen lassen will. Max Frisch hat einmal über das Guernica-Bild von Picasso gesagt: Was schließlich übrigbleibt, ist ein schönes Bild. Das ist die Gefahr der Annäherung an Wirklichkeit, indem man sie schönt.
    Dieser Gefahr hat sich Grass willentlich und absichtlich, und in jedem Strich deutlich zu erkennen, widersetzt. Er hat gewagt, häßlich zu zeichnen. Nicht nur das Häßliche, sondern häßlich. Die Krähen, die auf die Ratten einhacken, sind wirklich häßlich. Es ist kein Bild, um es sich übers Buffet zu hängen; links und rechts ein kleiner Silberleuchter, das würde vielleicht etwas unpassend sein. Es sind Gravüren, die ins Gewissen gehen, eigentlich durch das Auge als Medium hindurch, die aber das Gewissen aufrühren wollen und das auch tun. Das ist die Stärke dieser Blätter, das ist auch die Größe des ganzen Gesamtkunstwerks. Der Zorn, der gar nicht so sehr auf Komma und Semikolon und die linke Linie, die von oben nach unten gleitet, achtet, sondern alles, was an attackierender Empörung vorhanden ist, ins Kunstwerk hereinholt und es nicht glättet.
    Das ist das Bemerkenswerte, womit wir es hier zu tun haben. Den Müll umschichten, das ist es, was Grass getan hat. Er hat den Müll uns eigentlich umgeschichtet vor die Füße geworfen. Hat gesagt, so ist diese Welt und sie ist ein Stück von euch. Sie ist nicht von Gott gemacht und sie ist nicht vom Himmel gefallen und sie ist nicht ein Zufall und sie ist nicht so, weil Millionen Inder nur faul, dumm und dreckig sind, sondern sie ist gemacht, sie ist ein Produkt, und wir, wir Europäer (heute würde man mindestens die Amerikaner noch dazuzählen) haben es gemacht.
    Und Grass war sehr genau dabei. Ich bitte Sie, wenn Sie unten sich die Blätter noch einmal angucken, mit welcher Technik er das schafft. Er hat mit Möwen- und Rohr- und Taubenfedern gearbeitet, das war sein Zeichenmaterial. Er hat nicht den Pinsel genommen – auch, auch den Bleistift gelegentlich, aber er hat vor allem und absichtlich ein hartes Instrument, ein hartes Material gewählt, um die Härte dieser Realität uns deutlich zu machen, uns zu verstören durch das, was zerstört worden ist. Das, so scheint mir, ist die grandiose, erschreckende, umstülpende Leistung dieser Arbeit. Deswegen kommt er zu der Schlußformel, «Zunge zeigen, ich». Zunge zeigen, Scham, Schande, die Scham der Menschen ist unsere Schande, und Zunge zeigen heißt: ich, ich auch.
    Auch ich, Günter Grass, gehöre dazu. Wir alle. Es ist ja keiner, der sagen kann, ich bin der gute Mensch von Sezuan, ich habe mein Scherflein getan. Selbst der, der es vielleicht getan hat, der vielleicht ein indisches Kind adoptiert (das kriegt dann, gaube ich, 30  Dollar im Monat, und damit hat man sein Gewissen beruhigt). Nein, Zunge zeigen heißt auch: Ich auch.
    Und deswegen freue ich mich über Günter Grass. Ich wollte Sie, nicht wissend, daß das auf dem Plakat abgedruckt ist, besonders auf ebendieses Blatt

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