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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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hinweisen, das jetzt auf dem Plakat da ist – der Kopf ist ab. Es gibt ja das Wort «Wer keinen Kopf hat, kann ihn auch nicht verlieren». Grass hatte viel Kopf, und in dem Kopf sitzt Gewissen, und er hat dort seinen Kopf verloren. Eines der eindringlichsten Blätter ist, wie mit der Sichel sein Kopf abgeschlagen wird. Das war das Lebensgefühl von Günter Grass in dieser Schattenreise, den Schatten seines eigenen Landes hinter sich, in die Düsternis und Schwärze dieser Schatten hinein. Er hat auch den eigenen Kopf dort nicht nur riskiert, sondern verloren und wiedergefunden.
    *
    «Ich habe mich verführen lassen»
    In «Beim Häuten der Zwiebel» befragt sich Günter Grass schonungslos
    Das Leben eine Werkstatt. Was hier vorliegt, ist ein gar seltsames, hochgemut trauriges Buch, Legende vom Erfolg durch Versagen, widerborstig-garstig, schockierend und (dadurch) zutiefst berührend. Keine «Besonnte Vergangenheit», keine «Jugenderinnerungen eines alten Mannes». Ein Kontobuch – um die frühe buchhalterische Erfahrung des Kleinbürgersohnes aus dem Kolonialwarenladen und die von Grass gerne noch heute betonte Rechenhaftigkeit zur Metapher zu dehnen; unter dem Strich steht mit schwarzer Tinte die Summe: «Ich war als Hitlerjunge ein Jungnazi. Gläubig bis zum Schluß.» Da trug der Panzerkanonier – der sich zuvor vergebens freiwillig zur U-Boot-Waffe gemeldet hatte – jene Runen am Uniformkragen, von denen ihn bei Kriegsende («Sonst kriegst du gleich einen Genickschuß») ein Kamerad vorsorglich befreite, indem er ihm eine andere Jacke «organisierte». SS -Mann Günter Grass. Es sträubt sich die Feder, so einen Satz aufs Papier zu bringen. Mit einer Rigorosität, wie ich sie sonst nur von Jorge Semprúns schonungslosem Abrechnungsbuch über seinen Irrweg zum fanatischen Kommunisten kenne, gibt sich hier einer kein Pardon – wie man uns sonst so häufig in selbstmitleidigem Schluchzton die Ohren zuzuschmieren suchte. Die trotzige Ungebärdigkeit, die wir aus Büchern und Reden von Grass kennen – letzthin in seiner furiosen Ansprache auf dem PEN -Kongreß –, erspart er dem nicht, den er «jenen Jungen» nennt, «der anscheinend ich war» und den er – «keine Zweifel haben meine Kinderjahre getrübt» – als «leicht zu gewinnen» schildert. Dieser «Junge meines Namens» hat nie gefragt (etwa nach Verschwundenen), hat immer wieder «das Wort ‹Warum› verschluckt, nicht ausgesprochen … wenngleich der Name Stutthof abschreckend in aller Munde war». Der Name Hitlers war ihm «heilig», an ihn wurde geglaubt, bis alles in Scherben fiel (und noch ein Weilchen, im Kriegsgefangenenlager, danach).
    Grass gibt Rechenschaft, bohrend, brennend mit dem rotglühenden Eisen namens Erinnerung; rechtfertigen tut er nichts: «Um den Jungen und also mich zu entlasten, kann nicht einmal gesagt werden: Man hat uns verführt! Nein, wir haben uns, ich habe mich verführen lassen.» Grass schrubbt und schrubbt – aber keine Reinwaschung will ihm handhabbar sein; nur deutlicher wird sein Schandmal, das er uns vorzeigt – «mein Schweigen dröhnt mir, beim Häuten der Zwiebel, in den Ohren». Die Schmach, der er sich ohne die kleinste Persilschein-Schummelei stellt, wird eines Tages zur schöpferischen Energie. Geheimnisvolle Dialektik der Kunst. Das ist die zweite Ebene dieses Buches. Davon wird noch zu berichten sein.
    Zuvor aber eine Bedenklichkeit, von der ich selber nicht weiß: ist sie besserwisserisch-banausisch oder notwendig: geht sie nicht gar an der Pflicht eines Kritikers vorbei, über eine Grenze hinweg. Sei’s drum. Ich muß einbekennen: Ganz verstehe ich diese Dummheit nicht; auch wenn Grass sie ohne Beschönigungsschnörkel einbekennt. «Blind für alltäglich werdendes Unrecht im nahen Umfeld der Stadt» – wie ging denn das, bei einem 1940 immerhin 14 Jährigen, kein Baby also, mehr Jüngling schon denn Junge? Ich bin vier Jahre jünger, war also 1939  – als «seit 5  Uhr 45 zurückgeschossen» wurde – wirklich ein achtjähriges dämliches Gör, in dessen mulschigem Gehirn sich der Krieg ausmalte als Aufmarsch hübsch farbig gekleideter Soldaten (Bleisoldaten?) auf dem Tempelhofer Feld; und doch habe ich den Aufschrei des gartensprengenden Vaters nicht überhört «Das Ende beginnt». Verstanden habe ich nichts, noch nicht; doch als meine ältere Schwester – gleichaltrig mit Grass – mir zu baff-kuhmäuligem Erstaunen erklärte, andere Staaten, man nenne sie Demokratien,

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