Stahlstiche
hätten keinen Führer, hakelte doch etwas in meinem Kopf. Auch in meiner Familie hörte man nicht unentwegt BBC , gar Thomas Manns Reden «An die deutsche Nation» (ich hätte gar nicht gewußt, wer Thomas Mann ist), und mein Herr Offiziersvater war wahrlich Lichtjahre entfernt von auch nur kritischer Einrede (vor uns), geschweige denn auch nur dem Hauch eines Gedankens namens Widerstand. Unredliche Geschichtsschummelei wäre das. Aber in jeder Familie gab es doch irgendeine Tante, Cousine, einen Onkel, irgendeinen Bahnbeamten im Bekanntenkreis, der/die dem Grass-Prinzip «Habe ich wieder mal keine Fragen gestellt» nicht folgte? Es gab gar Kinder-Abzählreime «… dann kommst du ins KZ »; es gab kleine Blinzel-Witze «Mama, wer klingelt da jetzt abends? – Ess-Ess, mein Kind und mach dir keine Sorgen.» Das, und vieles andere habe ich, der vier Jahre Jüngere, gehört, geschmeckt, gerochen, nicht begriffen, aber wahrgenommen.
Auch ich habe die Sondermeldungen gehört; auch ich habe die Wochenschauen mit den siegreichen Panzern in Afrika oder in Rußland gesehen; auch ich habe all die Ufa-Filme (oft heimlich, weil zu jung) angeschaut, von denen Grass berichtet – und war begeistert von Willy Birgel in «Reitet für Deutschland», weniger von «Stukas» mit Carl Raddatz, weil ich den entfernten Verwandten nicht mochte – aber in diesem gläubigen Applaus-Rausch war ich nie eingehüllt, niemand, den ich kannte: kein Schulkamerad, keine erste Knutsch-Anette, kein gefürchteter Vater. Endsieg erhoffen? Wie funktionierte denn das, angesichts der in rauchenden Trümmern versinkenden Städte (Grass hat sowohl Dresden als auch Berlin in Schutt und Asche gesehen, er beschreibt es eindrucksvoll); angesichts der sehr bald eintretenden Kunsthonig- und Wurstersatz-Kümmerlichkeit; der allenthalben mit einem Bein, mit leerem Jackenärmel, mit der Blindenbrille in Straßenbahnen und Omnibussen Humpelnden; der viele Zeitungsseiten füllenden Anzeigen «Für Führer Volk und Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen. In stolzer Trauer …» Ich erinnere mich sehr genau an die schallende Ohrfeige des Vaters, als ich «Quatsch» gesagt hatte, «wie kann man denn stolz sein, wenn einer tot ist» – da war ein älterer Schlittschuhlauf-Freund in Kurland gefallen, und ich war lange Abende bei der fassungslos weinenden Mutter gesessen.
Nun war Grass ja seit seinem 15 . Lebensjahr fast immer kaserniert, nix Ku’damm-Cocktails neben eben noch brennenden Häusern, nix Wannsee-Bad «Für Juden verboten»; vielleicht hat er, eingesperrt in die dumpfe Kameraderie und eingesetzt schließlich in (erschütternd erzähltem) grausigem Fronteinsatz, nie einen Menschen mit Judenstern am Mantel gesehen – es muß eine Miefretorte gewesen sein. Aber kam nicht mal ein Kamerad vom Urlaub zurück und berichtete von der Not in Hannover, München oder Cottbus? Eine remarquehafte Szene, wie er einem eben noch hilfreichen Gefreiten, nun die Beine zerschossen, in die blutig zerfetzte Hose greifen muß, ob er «noch ein Mann» sei. Den Pimmel eines Gemetzelten in der Hand – und an Führer und Endsieg glauben, mit nunmehr 17 oder 18 Jahren? Grass ist von geradezu wütender Ehrlichkeit; aber seine bis über des feigen Massenmörders schmähliches Ende, das er noch hinnahm als «im Kampf um die Reichshauptstadt gefallen», bis über das Kriegsende hinausreichende Gläubigkeit ist schwer zu verstehen. Ohne einen Tupfer von Schminke gesteht er ein, daß es so war, er so war; aber
wie
und
warum
?
Nun geschieht aber etwas Wundersames, das «Beim Häuten der Zwiebel» zu einem wichtigen, einem glücklich gelungenen Buch macht. Ihm, dem meisterlichen Erzähler, gelingt, was man – wenn ich nicht irre – in der Naturwissenschaft eine «Doppel-Helix» nennt: In immer neuen Kurven, Ausbuchtungen, Schleifen führt er vor die schwärende Wunde, Schande. Er gibt preis, wie tief eingekerbt, stets bewahrt, stets sich dessen bewußt, diese verbogene Jugend sein Werk geprägt hat. Wie er die falsche Währung «Gläubigkeit» umgemünzt hat ins Wort, ob Gedicht oder Prosa:
Ich bereits angejahrt, er unverschämt jung; er liest sich Zukunft an, mich holt Vergangenheit ein; meine Kümmernisse sind nicht seine; was ihm nicht schädlich sein will, ihn also nicht als Schande drückt, muß ich, der ihm mehr als verwandt ist, nun abarbeiten. Zwischen beiden liegt Blatt auf Blatt verbrauchte Zeit.
So gelassen wie minutiös – für Philologen dereinst eine
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