Stahlstiche
Wonne – gibt er uns Auskunft, welcher Bildfetzen vom am Oxhöft-Kai liegenden ehemaligen KdF-Schiff «Wilhelm Gustloff» eines Tages seine Novelle «Im Krebsgang» gebären wird; welch und wessen schief schepperndes Ritterkreuz die berühmte Szene in «Katz und Maus» nähren soll; welche ausgeleierten Redewendungen eines Unteroffiziers sich in den Materniaden der «Hundejahre» wiederfinden; wie die fetten Ratten in den Unterständen der Acht-Komma-acht-Geschütze ihm «auf Länge eines Romans gesprächig» wurden; wie zum «Störtebeker» umgetauft in der «Blechtrommel» der Anführer einer Bande Jugendlicher auftaucht, von der nur das Gerücht zu ihm gedrungen war:
Vom Hauptbahnhof, auf der Mottlaubrücke und Speicherinsel, im Vorfeld der Schichauwerft und längs der Hindenburgallee kontrollierten die Feldgendarmerie und die Streifen- HJ zivile Personen, Fronturlauber und immer mehr streunende Mädchen, die für gewöhnliche Landser und höhere Dienstgrade mehr als ansprechbar waren. Vor Deserteuren wurde gewarnt, von einer Bande Jugendlicher Abenteuerliches gemunkelt: Einbruch im Ernährungsamt, Brandstiftung im Hafengebiet, Geheimtreffen in einer katholischen Kirche … All das, Unglaubliches sagte man jener «Stäuberbande» nach, die mir späterhin, als ich endlich Wörter auf Abruf genug hatte, einige Kapitel lang wichtig werden sollte.
Zwar mißtraut Grass der Erinnerung, von der er skeptisch sagt, sie horte mit Vorliebe Schrott; aber Töne, Bilder, Geruch, gar kleine Szenen der kostümierten Liliputaner einer im Bunker schutzsuchenden Artistentruppe zwischen verängstigten Kindern und Verwundeten auf Tragbahren: das hat sich fest eingedrückt in die Wachsplatte namens Gedächtnis: «Geführt wurde die Gruppe, die als Fronttheater unterwegs war, von einem kleinwüchsigen Greis, der als Clown auftrat. Aus leeren bis gefüllten Gläsern, die gereiht standen, zauberten seine den Gläserrand streichelnden Finger Musik: jammervoll süß. Er lächelte geschminkt. Ein Bild, das blieb.»
Das Private ist Rohmaterial. Eines Tages wird es geformt werden. Der junge Grass war kein reflektierender Mensch, selbst dem Satz «Und dann sah ich die ersten Toten» folgt die Feststellung «Keine Gedanken, nur Bilder bleiben … Der Bildersammler sieht mehr, als er fassen kann.» So ist das Buch, dem Grass eine Genrebezeichnung verweigert, auch ein Tagebuch. Präzise und authentisch. Es gibt ohne Scham, aber voller Bedenken die Lauf-Bahn eines Taugenichts wieder – und das Entstehen eines Künstlers; Zwiebelhaut für Zwiebelhaut. Oft weiß er nicht, ob Wiedergegebenes gar Nachgeliefertes ist, versteht er das eigene Wegsehen, Schweigen, Fragenunterdrücken nicht; aber die Technik der Retrospektive – es erzählt uns ja derselbe 80 Jährige vom 18 Jährigen – gestattet, auf ingeniöse Weise, das eigene Werk zu skelettieren (nicht etwa, Gott behüte, zu interpretieren). Dem begeisterten Koch – großartig die Szene, wie den hungernden Kriegsgefangenen papierene Genüsse von einem ehemaligen Wiener Chefkoch vorgegaukelt werden: «Heut, bittscheen, nehmen wir Schwain durch» – dem «Butt»-Autor und Aalgenießer darf man wohl sagen: Er gibt uns die Gräte seines Oeuvres; selbst die erwähnte Sequenz blieb ihm ja abrufbar, wir finden sie im Roman «Örtlich betäubt», in dem statt des wienerischen «No, das gibt Krustchen kestlich» ein Studienrat namens Starusch dilettiert.
Ich zögere nicht zu sagen: Das Buch hat etwas Ergreifendes; es greift nach uns. Selbst da, wo es sich einem Abschnitt nähert, den unsereins als Zeitzeuge miterlebt hat, bleibt es ohne Aha-Effekt, bringt es im Leser etwas zum Schwingen; etwa in der zart-zurückhaltenden, dadurch besonders intensiven Erzählung von der großen Liebe zu Anna, der dann bald ersten Frau von Grass. Dieses Kapitel, in seiner diskreten und berührenden Innigkeit erinnert an das noble Marilyn-Monroe-Kapitel in Arthur Millers Memoiren «Zeitkurven». Chapeau.
Aber auch, wenn dieser Schriftsteller sich rückbesinnt auf die Schwierigkeit der Verwandlung von gelebtem Leben im Rohzustand in einen Text, wenn er sich des eigenen schlenkernden Leichtsinns erinnert nach dem ersten großen Erfolg – «Ach, wie leicht sind mir zu Beginn der sechziger Jahre die Wörter von der Hand gegangen, als ich bedenkenlos genug war, die Fakten Lügen zu strafen und mir auf alles, was widersinnig sein wollte, einen Reim zu machen. Schleusentore standen offen. In Kaskaden stürzte
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