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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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seitenlang gebändigter Wortfluß» –: Da vibriert es; das ist, was man den Grass-Magnetismus nennen möchte. Da kann man bocken (wenn er den Streit zwischen Sartre und Camus falsch etikettiert; es ging nicht um Sisyphos, es ging um den Gulag, den Sartre leugnete); da kann man stutzen (wenn er einbekennt, anfangs in der Bundesrepublik nicht gewählt zu haben, noch in der frühen Pariser Zeit an Politik nicht interessiert); da kann man den Poeten bewundern (wenn er vom verwundeten Soldaten erzählt, der, im Nichtraucherabteil rauchend, nach schnippischer Ermahnung einer rheinischen Dame, sich sein Taschenmesser ins Holzbein hiebt); da kann man Schüttelfrost bekommen (wenn angedeutet wird, die Mutter habe sich den vergewaltigenden Rotarmisten zum Schutz der Tochter angeboten) – eines kann man bei Günter Grass nicht: gleichgültig bleiben. Er ist eine Herausforderung. Mit diesem Buch hat er sich selber herausgefordert, sich gehäutet. Und wenn seine Summe ist, er habe von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch gelebt, so klingt das etwas zu literarisch. Nein, er hat mit seiner Selbstverletzung gelebt, mit einem existentiellen Riß, von dem dieses Buch, von dem seine Bücher Zeugnis geben: «Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, daß ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.»
    *
    Ein behutsamer Freund
    Dem Lyriker und Nobelpreisträger zum 80 . Geburtstag
    Die New Yorker, berüchtigt für ihre Spottsucht, fragten mit großstädtischer Chuzpe angesichts der überinstrumentierten Zeremonien, die Jackie Kennedy zur Beisetzung des 35 . US -Präsidenten inszeniert hatte: «And is Nurejew dancing?» Ein wenig wird man schon daran erinnert, liest und hört man von den Feierlichkeiten zwischen Göttingen, Danzig, Lübeck und Hamburg, die zum 80 . Geburtstag von Günter Grass ausgerichtet werden, Radioübertragungen, Fernsehaufzeichnungen, Museumsausstellung und Rede des Bundespräsidenten inklusive. New York ist groß, Norddeutschland ist klein. So nölt man hier auch nur: «Werden die Kinder schulfrei kriegen?»
    Da steht man als Gratulant etwas primel-primanerhaft bekniffen. Doch gratulieren möchte man. Möchte ich durchaus. Aber wie macht man das? Soll ich noch einmal den Siegeszug der «Blechtrommel» nachzeichnen, den von mir (was mich von meinen feineren Kollegen unterscheidet) hochgeschätzten «Butt»-Roman analysieren, ein weiteres Mal die eigenwillig-gelungenen Sonette preisen, erzählen vom jahrzehntelang ächzenden Stolz dieses Sisyphos und seiner Trotzkraft, der er immer wieder so Erstaunliches wie Bewundernswertes abrang? Das gigantische Werk ist so viel, so ausgiebig (auch von mir) und in so zahlreichen Ländern interpretiert worden – es schiene eher ein Purzelbaum denn Ehrerbietung, die Kunstfertigkeit von «Katz und Maus», das raffinierte Tableau von «Das Treffen in Telgte» zu bekränzen. Herr Lehrer, die «Iphigenie» hatten wir schon …
    Da nun aber der Schriftsteller in den nächsten Tagen und Wochen auf so vielen Bühnen sich darbieten wird, will ich mal einen Grass aus den Kulissen ziehen, den das grelle Rampenlicht verblüffenderweise noch gar nicht erfaßt hat. Da ist nämlich einer, der Anteil nimmt am Schicksal anderer, an ihren Nöten, Sorgen, abgesunkenen Hoffnungen. Thomas Manns befremdliches Diktum bei der Konkurrenz-Nachricht von Hermann Hesses «Glasperlenspiel», es sei immer «unangenehm», sich daran zu erinnern, «daß man nicht allein auf der Welt» – ein solcher Ausspruch wäre dem heutigen Lübecker Wahlbürger wohl fremd. Dieser Grass, behutsamer Freund, verbirgt sich zumeist. Man findet ihn versteckt in Briefen, etwa wenn er dem Gefährten der frühen Pariser Zeit, Paul Celan, nicht nur dankt für so manchen Bildungsklassiker, sondern auch das Glück wünscht:
    Wettingen, am 27 .  4 .  59
    Lieber Paul,
    immer wieder, und möglichst weit weg von meinen Fahnenabzügen, habe ich in Deinem Gedichtband gelesen. Ohne daß es am Ende dieses Satzes eines gewichtigen Ausrufezeichens bedarf, glaube ich in dem Gedicht «Engführung» ein großes Gedicht unserer Zeit, womöglich Dein großes Gedicht erkannt zu haben. Man muß lange rückwärts schreiten, bis zu den Elegien des späten Rilke oder gar bis «Offenbarung und Untergang», wenn man sich ähnlichem Atem aussetzen will.
    Ich wünsche Dir,

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