Stalingrad
fünfhundert Seiten. Und alles in ganz kleiner Schrift, ohne Brille kann man sie gar nicht lesen.«
»Geht deiner auch manchmal in die vorderste Stellung?« fragt plötzlich Walega.
»Wie sollte er denn! Ist schon zu alt. Und außerdem kann er nachts nichts sehen.«
Walega schweigt triumphierend. Der Melder geht mit meinem Bericht.
Manchmal kommt Tschumak zu uns – er haust nebenan,
in zehn Schritt Entfernung –, bringt Karten mit, und wir spielen »17 und 4«.
Manchmal gehen wir mit Lissagor zu ihm hin, um Grammophon zu hören.
Von Zeit zu Zeit kommt vom anderen Ufer der Oberzahlmeister Lasar. Er quartiert sich bei uns ein. Walega breitet ihm zwischen den Pritschen den Mantel aus und schlägt sein eigenes Lager am Ofen auf. Lasar erzählt Neuigkeiten vom linken Ufer: Man will uns angeblich zur Neuaufstellung schicken, vielleicht nach Leninsk oder nach Sibirien. Wir wissen, daß das alles Unsinn ist, daß man uns nicht zurückziehen wird, aber wir tun so, als ob wir es glaubten – glauben ist ja viel angenehmer als nicht glauben –, und machen Pläne vom friedlichen Leben in Krasnoufimsk oder in Tomsk. Den größten Platz in all diesen Plänen nehmen Pelmeni ein und saure Sahne, natürlich auch das weibliche Geschlecht.
Einmal stürzt im Abschnitt unseres Regiments eine Messerschmitt ab. Wer sie abgeschossen hat, ist unbekannt, aber in den Abendmeldungen aller drei Bataillone heißt es: »Durch treffsicheres Gewehr- und MG-Feuer der Einheiten unseres Bataillons ist ein Flugzeug des Gegners zum Absturz gebracht worden.« Es stürzt in der Nähe der Fleischfabrik ab, und trotz des Beschusses, trotz der Rufe der Kommandeure fängt eine förmliche Wallfahrt zu ihm an. Eine halbe Stunde nach dem Absturz bringt Tschumak eine bezaubernde Uhr mit Leuchtzeigern und ein großes Stück Plexiglas. Eine Woche später protzen wir alle mit riesigen durchsichtigen Zigarettenspitzen, von Garkuscha hergestellt. Er hat keine Ruhe mehr vor Auftraggebern. Sogar der Major, der drei Pfeifen hat und niemals Zigaretten raucht, bestellt sich eine besondere Spitze mit Metallfassung.
19
Am Sechsten abends ruft mich Schirjajew an.
»Die Fritzen greifen nicht an. Ich langweile mich. Bei mir gibt’s heute Koteletts. Und morgen ist Feiertag. Komm herüber!«
Ich lasse nicht auf mich warten, gehe hin. Später kommen noch Farber und Karnauchow.
»Weißt du noch«, sagt Schirjajew, »wie wir damals bei
Kupjansk beide tranken? In der letzten Nacht … Bei mir im Keller. Dazu haben wir Bratkartoffeln gegessen. Mein Philipp war Meister im Zubereiten von Bratkartoffeln. Erinnerst du dich noch an Philipp? Ich hab ihn verloren. Bei Kantemirowka. War kein schlechter Bursche …« Er dreht den Becher in den Händen.
»Woran hast du damals gedacht? He, Jurka? Als wir am Ufer saßen? Das Regiment war weg, und wir saßen und blickten nach den Raketen. Woran hast du damals gedacht?« »Was soll ich dir sagen …«
»Brauchst nichts zu sagen … Ich weiß. Es tat weh. Tat teuflisch weh, nicht wahr? Und dann, weißt du noch, in einem Dorf, der Alte, der uns Wasser gab? ›Ihr wollt nicht kämpfen‹, so sagte er. ›Seid kräftig, wollt aber nicht.‹ Und wir wußten nicht, was wir antworten sollten. Verstanden es selbst nicht. Wenn er doch jetzt hier wäre, dieser Alte mit dem einen Zahn.«
Er verstummt plötzlich, seine Augen werden schmal und stechend. Solche hatte er damals, als er erfuhr, daß zwei Soldaten desertiert waren.
»Sag mal, Ingenieur, hast du auch während des Rückzuges das Gefühl gehabt: Jetzt ist alles zu Ende … Alles ist auseinandergefallen … Nichts ist geblieben. Hast du so ein Gefühl gehabt? Ich hatte es einmal. Als wir über den Don gingen. Weißt du, was sich da getan hat? Einer ist da über den andern gestolpert. Ich habe mit einem Hauptmann, auch einem Pionier – sein Bataillon hat dort die Brücke geschlagen –, versucht, Ordnung zu schaffen. Die Pontonbrücke war schlüpfrig, voller Korken und Stopfen nach dem Bombenangriff. Die Autos fuhren einzeln, bis zum Bauch im Wasser. Wir haben Ordnung geschaffen. Eine Reihe aufgestellt. Auf einmal kommt auf einem ›Willys‹ ein Major im Panzerschützenhelm angefahren. Bis zur Brücke ist er in seinem ›Willys‹ herangekommen, hat sich dort in seiner ganzen Größe aufgepflanzt und mich angebrüllt: ›Verflucht noch mal, warum läßt du niemand durch? Die deutschen Panzer sind in drei Kilometer Entfernung! Und du machst hier Ordnung!‹ Weißt du, ich war ganz
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