Stalingrad
starr. Und er steht da mit der Pistole in der Hand, mit roter Fresse und herausquellenden Augen. Nun, denke ich mir, wenn schon Majore so sprechen, dann steht es schlecht … Die Autos aber kriechen schon aufeinander. Ich sehe, daß man meinen Hauptmann zu Boden gerissen hat. Und weiß der Kuckuck, in mir stieg eine maßlose Wut auf. Ich bin auf den ›Willys‹ raufgesprungen und patsch! – ein-, zwei-, dreimal direkt in seine widerliche Schnauze. Habe ihm die Pistole aus der Hand gerissen und alle acht Patronen abgefeuert … Und von Panzern, stellte sich heraus, war überhaupt keine Rede. Und der Chauffeur ist verschwunden. Vielleicht waren es Fritzen, Provokateure?«
»Möglich, daß es Fritzen waren«, antworte ich.
Schirjajew wird still und starrt auf einen Punkt vor sich hin. Man hört, wie durchs Telefon jemand schimpft.
»Was muß er doch für einen Willen haben …«, sagt Schirjajew, ohne aufzublicken. »Wahrhaftig …«
»Wer?« – Ich verstehe nicht.
»Stalin natürlich. Zwei solche Rückzüge aufzuhalten. Überleg doch mal! Im Jahre einundvierzig und jetzt hier … Es fertigzukriegen, sie von Moskau fortzujagen. Und hier aufzuhalten. Wie lange stehen wir schon hier? Den dritten Monat? Und die Deutschen können nichts machen mit allen ihren Junkers und Heinkel. Und das nach einem solchen Durchbruch. Nach den Julitagen … Wie mag ihm da zumute gewesen sein? Was denkst du? Das zweite Jahr schon leisten wir diese schwere Arbeit. Er aber denkt für alle. Wir halten da fünf- bis sechshundert Meter und schimpfen schon. Hier ist es nicht recht, und dort ist es nicht gut, und das Maschinengewehr frißt sich fest. Aber er – für die ganze Front … Wahrscheinlich hat er nicht einmal Zeit, die Zeitung zu lesen. Was meinst du, Kershenzew, hat er Zeit dazu oder nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich denke, daß er trotzdem Zeit dazu hat.«
»So, meinst du? Nun, ich denke, er hat keine Zeit dazu.
Du hast es gut. Sitzt im Unterstand, rauchst Machorka. Gefällt dir was nicht, kriechst du raus, fluchst, drohst auch manchmal mit der Pistole … Kennst alle in- und auswendig.
Jeden Hügel, jeden Höcker hast du kreuz und quer durchkrochen. Und was hat er? Eine Karte! Und darauf Fähnchen: Geh, find dich zurecht. Und behalt alles im Kopf – wo angegriffen wird, wo gehalten wird, wo zurückgegangen wird. Und sieh da – er hält uns alle … Und wird uns zum Siege führen. Wirst schon sehen!« Schirjajew steht auf. »Spiel was, Karnauchow. Die Gitarre hängt sonst so einsam an der Wand und ist traurig.«
Karnauchow nimmt die Gitarre von der Wand. Gestern hat der Bataillonsspähtrupp sie in einem zerstörten Hause gefunden. Ein blaues seidenes Band hängt daran, und eine Aufschrift ist eingebrannt: »Dem lieben Witja zur Erinnerung an Wolja.«
»Spiel etwas, irgendwas Zigeunerhaftes.«
Schirjajew macht es sich bequemer auf der Pritsche und streckt die Beine aus, die in enganliegenden chromledernen Stiefeln stecken.
»Wie ist es in der Vordersten, Ljoschka? Ruhig?« »Alles ruhig, Genosse Oberleutnant«, antwortet betont munter der großohrige Ljoschka, daß man ja nicht denken soll, er sei eingeschlafen. »Für die Fünfte hat man Abendbrot gebracht. Die Leute schimpfen, weil es so wenig ist …« »Ich werde diesem Feldwebel einmal zeigen, wo der Pfeffer wächst. Wenn er nachts kommt, dann wecke mich. Nun los, Karnauchow!«
Karnauchow schlägt einen Akkord an. Es stellt sich heraus, daß er eine angenehme Bruststimme hat, ein Mittelding zwischen Bariton und Tenor, und ein wunderbares Gehör.
Er singt nicht laut, aber mit Hingabe und schließt manchmal sogar die Augen. Lauter russische Lieder, besinnliche, viele von ihnen höre ich zum erstenmal. Er singt gut. Und ein gutmütiges Gesicht hat er, ein wenig grob, aber klar und echt. Buschige Augenbrauen, blaue Augen, kluge, ruhige.
Und immer liegt in ihnen ein tiefes, niemals schwindendes Lächeln. Sogar dort, auf der Anhöhe, haben seine Augen dieses Lächeln bewahrt.
Farber sitzt da, die Augen mit der Hand bedeckt. Zwischen seinen Fingern winden sich rote Locken. Woran denkt er jetzt? Ich kann es mir nicht vorstellen. An seine Frau, an seine Kinder, an Integrale, an unendlich kleine Größen?
Oder interessiert ihn überhaupt nichts auf der Welt? Manchmal will es mir scheinen, als ob sogar der Tod ihn nicht schrecke, mit solch einem abwesenden, gelangweilten Gesichtsausdruck raucht er während der Bombenangriffe. Karnauchow wird müde, oder es wird ihm
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