Stalingrad
nachdem er vorsorglich alle Türen seines Arbeitszimmers geschlossen hatte, flüsternd mit rätselhaftem Zwinkern: »Nur Er kann darauf gekommen sein, sonst niemand …« – und zog die Schultern hoch.)
Von diesem Tage an wurde das Buch als Vorbild propagiert. Alle Verlage beeilten sich um die Wette mit seiner Herausgabe und mit Nachauflagen, die Übersetzer mit der Übertragung in alle möglichen Sprachen, die Kritiker mit überschwenglichem Lob – vergessen war, daß sie den Verfasser des Buches eben noch wegen »Pazifismus« und »Remarquismus« gescholten hatten. Zehn Jahre später entstand eine Filmversion unter dem Titel »Die Soldaten«, die es freilich auch nicht leicht hatte.
Jetzt ist das Buch in der Sowjetunion verboten, es steht auf irgendwelchen Listen und wurde aus den Bibliotheken entfernt (angeblich soll es nur noch im Lefortowo-Gefängnis vorhanden sein), während der Film, der ein selbständiges, vom Autor unabhängiges Leben führt, hin und wieder irgendwo zu sehen sein soll, zu Jubiläumsanlässen – am 23. Februar und am 9. Mai.
Vierzig Jahre sind also vergangen. Seit Beginn des Krieges. Fünfunddreißig, seit ich den Schlußpunkt in meinem Manuskript, das damals den Titel »Am Rande der Erde« trug, setzte und zu Jelena Petrowna lief, um ihr abends das Geschriebene Seite für Seite zu diktieren.
Damals zählte ich fünfunddreißig Jahre. Inzwischen sind es siebzig geworden. Ein halbes Leben vor dem Buch, ein halbes danach.
Die erste Hälfte – Kindheit und Jugend – war alles in allem apolitisch, obwohl ich von klein auf Zeitungen las, vor allem die Kiewer »Proletarskaja prawda«. In den Jahren des Bürgerkriegs wünschte ich Denikin, Koltschak und Wrangel den Sieg. 1924 – dreizehnjährig – erfror ich mir die Ohren, als ich mich auf dem Krestschatik herumtrieb, während zum Zeichen der Trauer die Sirenen heulten – Lenin war gestorben. Zum größten Befremden meiner Eltern hängte ich ins Speisezimmer ein Leninbild und malte auf Kuverts (ich schrieb, meiner Mutter nacheifernd, gern Briefe) mit schwarzer Tusche Trauerränder.
Weder bei den Pionieren noch bei den Komsomolzen bin ich je gewesen. Ich hatte zu ihnen dasselbe ironische Verhältnis wie zur Sowjetmacht. Bei meinen engsten Freunden – in der Schule, der Berufsschule, dem Institut – war es nicht anders. Vor dem Politunterricht, allen möglichen ML- und Gewi-Veranstaltungen suchten wir uns zu drücken. Manchmal, wenn man sich der Sache gar nicht entziehen konnte, nahmen wir uns die Beschlüsse des jeweiligen Parteitags vor, um sie gleich wieder zu vergessen und baden zu laufen. Was auf dem Lande vor sich ging – dreißiger Jahre, Kollektivierung –, wußten wir mehr vom Hörensagen, obwohl wir auch Fuhrwerke mit aufgetürmten Leichen zu sehen bekamen.
Jugend, Leidenschaften, Architektur, Theater … Mal wollten wir Corbusier sein, mal Stanislawski oder wenigstens Michail Tschechow 19 . Zudem schrieben wir auch. Wir trafen uns bei Serjosha Domanski in seiner Junggesellenbude auf der Trjochswjatitelskaja, zündeten, um eine geheimnisvolle Atmosphäre zu schaffen, auf dem runden Tisch eine Kerze an und lasen einander unsere natürlich fast genial zu nennenden »Opera« vor, einen Mischmasch aus Hamsun und Hemingway. In aller Munde waren in dessen die»Tscheljuskin«- und Papanin-Leute, die Eisbrecher »Krassin« und »Malygin«, die Stratosphäre, die Flüge Tschkalows – Sieg auf Sieg. Auf der Leinwand Potjomkin, Tschapajew, Maxim …
Das Jahr siebenunddreißig überstanden wir wie durch ein Wunder heil. Ein Rätsel. Meine Eltern gehörten als Adlige zu den »Ehemaligen«, besagte furchtlose Tante Sonja nahm die widerrechtlichen Verhaftungen zum Anlaß, an die Krupskaja, an Nogin und Bontsch-Brujewitsch zu schreiben, eine zweite Tante lebte in der Schweiz – lebhafte Korrespondenz, Geld für die »Unionsvereinigung für den Handel mit Ausländern« … Und dennoch wurde nie jemand belangt (bis auf einen entfernten Verwandten, einen reichen Onkel aus Mirgorod, der im Gefängnis saß). Womit das zu erklären ist, weiß ich nicht. Vielleicht retteten uns die Tschekisten, die in einem Zimmer unserer vollbelegten Wohnung als Dauergäste einquartiert wurden – Mutter kurierte alle ihre Kinder und sie gleich dazu.
So verging meine Jugend. Ich absolvierte das Institut und das Theaterstudio. Anschließend arbeitete ich in einem Theater. Einem halb illegalen Wandertheater. Alle Krähwinkel der Gebiete Kiew, Shitomir und
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