Stalingrad
im Unterstand. Nur der Spann ist etwas niedrig.«
Ich habe mich gerechtfertigt, so gut ich’s konnte, aber verziehen hat er mir – glaube ich – nicht.
»Trink, trink, Ingenieur!« Tschumak schenkt immer neu ein. »Genier dich nicht …«
Lissagor ergreift den Becher.
»Mach ihn mir nicht betrunken. Wir sind heute bei der Neununddreißigsten eingeladen. Jurka, halt dich ran an die Butter. Halt dich ran.«
Und ich halte mich ran.
Durch die löcherige Wand ist der Mamai-Hügel zu sehen, der Schornstein des »Roten Oktober«, der einzige, der nicht eingestürzt ist. Der ganze Himmel ist voller Raketen – rote, blaue, gelbe, grüne … Ein ganzes Meer von Raketen … Und eine Schießerei. Den ganzen Tag wird heute geschossen. Aus Pistolen, Maschinenpistolen, Gewehren, aus allem, was einem in die Hände kommt … Tack-tack-tack, tack-tack-tack-tacktack-tack.
Das ist ein Tag, mein Gott, was für ein Tag! Ausgestreckt auf dem Stroh, blicke ich zum Himmel empor und habe nicht mehr die Kraft zu denken. Ich bin so erfüllt von allem, gesättigt bis an den Rand. Ich zähle die Raketen. Dazu bin ich gerade noch fähig. Eine rote, eine grüne, wieder eine grüne, vier grüne hintereinander …
Tschumak sagt etwas. Ich höre nicht hin.
»Laß mich in Ruh!«
»Es kostet dich doch nichts … Wenn man dich darum bittet … Sei doch nicht so ungefällig.«
»Laß mich in Ruhe, sag ich dir. Was willst du?«
»Nun, lies doch … Macht dir doch nichts aus. Und wenn auch bloß zehn Zeilen.«
»Was für zehn Zeilen?«
»Hier. Seine Rede. Ist doch interessant … Wirklich, höchst interessant.«
Er hält mir einen schmutzigen Fetzen einer deutschen Zeitung dicht vors Gesicht.
»Was ist das für Unsinn?«
»Lies doch!«
Vor meinen Augen tanzen die Buchstaben, ungewohnte, gotische Buchstaben. Hitlers degeneriertes Gesicht – zusammengepreßte Lippen, schwere Augenlider, ein riesiger idiotischer Mützenschirm.
»Völkischer Beobachter …«
Die Rede des »Führers« in München am 9. November 1942. Beinahe drei Monate her …
»Stalingrad ist unser! Nur noch in einigen wenigen Häusern sitzen die Russen. Mögen sie sitzen. Das ist ihre persönliche Angelegenheit. Unsere Arbeit ist getan. Die Stadt, die Stalins Namen trägt, ist in unseren Händen. Die gewaltige russische Arterie – die Wolga – ist lahmgelegt. Und es gibt keine Macht in der Welt, die uns von diesem Platz fortbringen könnte.
Das sage ich Ihnen, ich, der ich Sie noch nie betrogen habe, dem die Vorsehung die Last auferlegt hat und die Verantwortung für diesen gewaltigsten Krieg in der Geschichte der Menschheit. Ich weiß, Sie haben Vertrauen zu mir, und Sie dürfen versichert sein – ich wiederhole es mit voller Verantwortung vor Gott und der Geschichte –, daß wir Stalingrad nie wieder verlassen werden. Nie wieder! Wie sehr es die Bolschewisten auch wünschen mögen …«
Tschumak schüttelt sich vor Lachen.
»Oh, der Adolf! Das ist ein Prachtkerl! Wahrhaftig, ein Prachtkerl. Genauso, wie es da geschrieben steht, ist es auch gekommen.«
Er dreht sich auf den Bauch und stützt den Kopf in die Hände.
»Und warum, Ingenieur? Warum? Erklär mir das!«
»Was, warum?«
»Warum das alles so gekommen ist? He? Weißt du noch, wie die uns zugesetzt haben im September? Und es ist ihnen doch nicht gelungen. Warum? Warum haben sie uns nicht in die Wolga hineingedrängt?«
Mir dreht sich alles im Kopf. Ich bin doch noch schwach nach dem Aufenthalt im Lazarett.
»Lissagor, erkläre ihm, warum. Ich werde inzwischen ein bißchen spazierengehen.«
Ich stehe auf und gehe schwankend durch die Öffnung, die früher wahrscheinlich einmal eine Tür gewesen ist.
Was für ein hoher, durchsichtiger Himmel – ganz klar, weder ein Wölkchen noch ein Flugzeug. Nur Raketen, und ein blasser, verirrter Stern dazwischen. Und die Wolga so breit, so ruhig, so glatt, nur an einer Stelle, gegenüber dem Wasserwerk, ist sie nicht zugefroren. Man sagt, daß sie an dieser Stelle niemals zufriere.
»Die größte russische Arterie … lahmgelegt«, hat er gesagt … So ein Dummkopf! So ein Dummkopf! »In wenigen Häusern sitzen noch Russen. Mögen sie sitzen. Das ist ihre persönliche Angelegenheit …«
Hier sind sie – diese wenigen Häuser! Hier ist er, der Mamai-Hügel, zwei Pickel auf seiner Spitze – die Wassertürme … Was haben sie uns zu schaffen gemacht! Es ist sogar jetzt noch widerwärtig, sie anzusehen … Und hinter jenen roten Trümmern – nur Wände,
Weitere Kostenlose Bücher