Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Ludwig. Beifall heischend sah er sich um. »Das sagen jetzt alle.«
Fritz warf einen Blick auf die Ruinen eines Etappendörfchens, das draußen vorbeiglitt. »Ein Eineiiger regiert die Welt. So sieht sie auch aus.«
»Mensch, halt die Fresse!«, sagte Rollo. »Reicht’s dir noch nicht, wo wir sind?«
Bubi hörte auf zu kauen und schluchzte wieder lauter.
Rollo dachte an das Ohr in seiner Tasche und legte Bubi den Arm um die Schultern. »Wird schon wieder, Kleiner. Lässte dir die Haare ’n bisschen länger wachs en. Hast ohnehin so kleine Mausohren, eins weniger fällt überhaupt nich auf.«
Bubi versuchte seine Hand wegz ustoßen, aber er war zu unglücklich und schwach dazu. Das Einzige, was er jemals besessen hatte, war seine Schönheit gewesen, und die war jetzt auch noch dahin. Er warf einen schnellen Blick auf Rollos linke Seite. Durch die Stahlsplitter, von denen einige zu tief saßen, um sie herauszupulen, sah sie aus wie ein verbeulter Kotflügel. Bubis Schönheit war nicht nur der ganze Stolz seiner Mutter gewesen, sie hatte ihm auch ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber diesem stinkenden Untier vermittelt, das einfach über ihn hergefallen war. Das Schlimmste war, dass es ihm irgendwie auch noch gefallen hatte.
Er schniefte ein letztes Mal und fragte: »Herr Obergefreiter, meine Braut und meine Mutter haben mir sicher zu Weihnachten geschrieben. Können Sie uns nicht unsere Post aushändigen?«
»Da komm ich nicht ran«, wehrte Ludwig ab.
»Macht’s so wie ich«, sagte Gro ss. »Ich hab meiner Frau schreiben lassen, dass ich gefallen bin.« Er machte eine kurze Pause. »Ist das Beste, glaubt mir.«
»Aber«, meinte Bubi stockend, »wir kommen doch wieder nach Hause, irgendwann.«
»Und wenn schon! Wollt ihr ’ne schöne Weihnachtsgeschichte hören?«
»Nee, bloß keine Predigt«, sag te Rollo rasch. Von dem verrückten Gequatsche von Gross hatte er für heute genug.
»Ihr kriegt eure Weihnachtsgeschichte, ob ihr wollt oder nicht. Keine Angst, es ist eine echte Weihnachtsgeschichte, ergreifend und traurig.« Gross wiegte langsam den Kopf. Dann begann er: »Vor genau einem Jahr war ich das letzte Mal zu Hause. Weihnachtsurlaub, weil ich drei Panzer geknackt hatte. Meine Frau und meine Kinder standen wartend am Bahnhof – und waren mir fremder als jedes russische Frontschwein …« Er brach ab, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider und murmelte: »An dieser Stelle weine ich jedes Mal.«
»Wirklich rührend«, sagte Rollo.
Lächelnd hob Gross den Kopf. »Meine Frau hat versucht, mich zu verstehen, zärtlich zu sein. Es war dasselbe Zimmer, dasselbe Bett, dieselben Kopfkissenbezüge, gelb mit roten Blumen. Ich hatte mich drauf gefreut, das könnt ihr mir glauben! Eine Menge großer Gefühle hatte ich, aber dann war plötzlich alles weg. Ich hab’s nicht ertragen. Und je mehr Verständnis sie hatte, umso mehr hab ich sie gehasst. Ich bin abgehauen, hab mich besoffen, das hat mir damals noch was gebracht.« Er lachte. »Dann bin ich auch noch in der Christmette gelandet. Früher war ich auch mal fromm. Nicht viel, man hat eben an das Gute im Menschen geglaubt. Weihnachten war ich immer in der Kirche, schon wegen der Kinder. Als ich jetzt die Leute vor dem blutenden Jesus am Kreuz knien sah«, er runzelte bei der Erinnerung grübelnd die Stirn, »hab ich plötzlich begriffen, dass all diese Idioten mit schuld daran sind, dass man etwas Edles, Großartiges aus dem Leid machen kann, aus dem elenden Verrecken … Verzeihung, sollte ja keine Predigt werden. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich meine Knarre in der Hand und hab Jesus den Kopf weggeschossen.«
Rollo starrte ihn ungläubig an, dann prustete er los. Das würde er in der Kirche bei ihnen um die Ecke auch mal bringen.
Gross nickte ihm grinsend zu. »War ’ne schöne Schnitzarbeit, Gotik, fünfzehntes Jahrhundert. Meine Frau hat jedenfalls nichts dagegen gehabt, dass ich am nächsten Tag zurückgefahren bin. Kam gerade rechtzeitig zu ’ner neuen russischen Großoffensive. War ich wieder zu Hause.«
Stille.
»Seid ihr gerührt?«, fragte Gross verächtlich. »Ihr Idioten! Ihr werdet immer nur die Lämmer sein, die man zur Schlachtbank führt.«
Betretenes Schweigen. Allen war klar, dass sich Gross längst an einem Punkt befand, von wo keine Rückkehr mehr möglich war. Jeder fragte sich im Stillen, wie weit er selbst bereits war.
Sie fuhren an einem Leichenberg toter deutscher Soldaten vorbei, die auf einem
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