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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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zu müssen. Gross hatte recht. Das Töten war längst nur noch Selbstzweck.
     
    »Regen Sie sich bloß nicht künstlich auf«, meinte Gross und reichte Hans einen dünnen, klebrigen Pfannkuchen. »Der Mann wäre heute oder morgen sowieso verreckt. Eher heute.«
    »Meine Gewissensbisse hab en uns immerhin eine warme Mahlzeit beschert«, entgegnete Hans. »Also halten Sie den Mund!«
    »Ich danke Ihnen. Mein Appet it ist entschieden größer geworden, seit ich wieder ein deutscher Soldat bin. Die Ehre weitet den Magen.«
    Hans zwang sich, den Rest des Pfannkuchens hinunterzuschlucken. Danach fühlte er sich zu seinem eigenen Erstaunen kräftig genug, um aufzustehen und zum Eingang der nächsten Hütte zu gehen.
    »Los, Leute! Abmarsch.«
    Murrend schlurften die Männer nach draußen. Rollo zerrte zwei Bäcker unter Pritschen hervor, die sich dort hatten verstecken wollen, stellte sie auf die Füße und stieß sie zu den anderen.
    »Jetzt macht euch mal nicht in die Hose«, knurrte er. »Der Iwan kommt so nah ran, da trifft jeder Idiot, sogar ihr.«

 
     
     
     
     
     
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    R ollo hatte sich getäuscht. Die Russen griffen nicht an. Sie hatten auf einmal Zeit, viel Zeit.
    Die neue Stellung der Kampfgruppe von Wetzland war eine glatte Schneewüste, durch die sich zwei brusthohe Schützengräben wie schwarze Schlangen zogen. An zwei Stellen näherten sich die beiden Schlangenleiber bis auf einige Dutzend Meter. Dort lagen besonders viele Tote.
    Empfangen wurden der Leutnant und seine Gruppe von zwanzig Männern, die einen fünfhundert Meter langen Frontabschnitt hielten. Ihre Gesichter wirkten wie Fallobst, die Augen wie Wurmlöcher. Als der Leutnant ihnen verkündete, dass er keineswegs die Ablösung, sondern nur die Verstärkung brachte, nickten sie apathisch.
    Zwei von ihnen versuchten in der folgenden Nacht zu den Russen überzulaufen. Da von beiden Seiten auf sie geschossen wurde, gab es hinterher heftigen Streit. Ein Unteroffizier aus Thüringen, im Zivilberuf Postmeister, beanspruchte die beiden Abschüsse für sich und verlangte dafür von dem Leutnant zwei Sonderrationen. Als sie ihm mangels Masse verweigert wurden, bekam er einen Tobsuchtsanfall, stürzte sich auf den Leutnant und biss ihm in den Arm, ehe Rollo und Fritz ihn überwältigen konnten.
    Rollo behielt dabei ein Stück seiner Feldbluse in der Hand und starrte auf das Loch im Hemd des anderen. Die Haut des Unteroffiziers war mit erbsengroßen schwarzen Flecken übersät, ein untrügliches Zeichen für Flecktyphus. Alle drückten sich ängstlich gegen die gefrorenen Erdwände. Wenn man sich bloß nicht bereits angesteckt hatte. Einer schlug vor, die Stockbetten zu verbrennen.
    Flüsternd empfahl Rollo, den Kranken abzuknallen und ihn unter einer dicken Kalkschicht einzugraben. Der Unteroffizier selbst enthob sie der Sorge, was mit ihm geschehen solle. Am Spätnachmittag begann er zu delirieren, stand nachts auf und griff die Russen laut schreiend allein an. Mitten zwischen den Schützengräben blieb er liegen, eine gefrorene, die Hand steif gegen den Winterhimmel reckende Leiche.
    Das war ihre Neujahrsnacht. Danach vergingen wieder einige Tage, aber die Männer nahmen die Zeit kaum noch wahr. Sie bewegten sich außerhalb von ihr, in einem grauen, endlos scheinenden Sumpf, von dem einige bereits befürchteten, dass sie nicht einmal durch den Tod hinausfinden würden. Ausgemergelt, verdreckt, verlaust dämmerten sie auf Posten oder hockten und lagen in ihren kümmerlichen Unterständen.
    Fritz hielt die salzigen Tropfen auf den Lippen zunächst für eine seiner vielen Einbildungen, die kamen und gingen, wie sie wollten. Er hatte sich fest vorgenommen, vo n seiner kleinen Russin zu träumen, aber irgendwie war er zwischen den mehlsackartigen Brüsten einer Kolonialwarenhändlerin gelandet, die ihm zu Hause immer erfolglos nachgestellt hatte. Hatte er geweint? So schlimm war der Traum auch wieder nicht gewesen.
    Er öffnete die Augen und sah, dass die Tropfen von oben auf sein Gesicht fielen. Wütend taumelte e r hoch. »Du Drecksau, geh gefälligst raus!«
    »Wahrscheinlich ist ihm draußen zu kalt«, flüsterte Bubi unter seinem speckigen Mantel.
    »Zu doof, um ’n Loch in Schnee zu pinkeln«, krächzte Rollo. »Los, raus!« Erst da sah er die zwei tief in die Höhlen gesunkenen starren Augäpfel. »Scheiße«, murmelte er. »Der ist weg.«
    Hans erhob sich mühsam von seine r Pritsche. Er öffnete die Feldbluse des Toten. Fritz sah ihn aus

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