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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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…«
    »Sicher, sicher«, beschwich tigte Hans müde, damit der Feldwebel endlich die Klappe hielt. Er wandte sich an die versammelten Bäcker, denen deutlich anzusehen war, dass sie alle das Gleiche wie ihr Wortführer dachten. Sie hätten ihm leid tun müssen, aber das taten sie nicht. Im Gegenteil. Er fühlte eine grimmige Genugtuung darüber, dass diese Jasager und Mitläufer, diese kleinen Opportunisten und Feiglinge, die alle mitmarschiert und mitgebrüllt hatten, solange es vorwärts ging, die mitgeraubt und mitgeplündert hatten, die die Augen verschlossen und die Verbrechen weggelogen hatten, die genauso jämmerlich versagt hatten wie er, nun auch die gleiche Strafe erhielten.
    »Sie werden alle mitkommen«, sagte er scharf. »So lautet der Befehl. Ich werde sehen, was ich an der Front für Sie tun kann. Fertigmachen zum Abmarsch.«
    Der Soldat, der gesprochen hatte, gab noch nicht auf. »Herr Leutnant, d-das ist der sichere Tod für uns. Wir nützen Ihnen doch gar nix!« Seine Unterlippe begann zu zittern, und auf einmal weinte er tatsächlich!
    »Reißen Sie sich zusammen, und stellen Sie sich zu den anderen!«, befahl der Leutnant barsch. »Oder wollen Sie vor ein Kriegsgericht?«
    Der Bäcker blinzelte die Tränen weg, kalte Angst kroch in seine Augen. »Nein«, sagte er tonlos. Dann noch einmal: »Nein …«
    Und plötzlich lief er los.
    »Halt!«, schrie der Leutnant. »Stehen bleiben!«
    Ohne sich allzu sehr zu beeilen, holte er seine Schusswaffe aus der Pistolentasche. Die Knie des Flüchtenden drohten bei jedem Schritt einzuknicken. Er würde allein aus Entkräftung nicht weit kommen. Am Ende des Platzes stolperte er wie blind geradeaus weiter in den tiefen Schnee und sank dann bei jedem Schritt bis zu den Knien ein, wodurch er sich nur noch im Zeitlupentempo vorwärts bewegte.
    Die Frontsoldaten murrten über so viel Blödheit, wegen der sie nur länger in der Kälte herumstehen mussten und man außerdem von dem viel wichtigeren Thema der Verpflegung abgekommen war. Die anderen Bäcker senkten beschämt die Köpfe, denn sie sahen ein, wie ausweglos ihre Lage war. Der Leutnant rief den Flüchtigen noch einmal an, dann feuerte er den ersten Schuss in die Luft.
    Der junge Soldat fiel vor Schreck in den Schnee, rappelte sich jedoch wieder hoch und stolperte weiter, während der Wind den Schnee in einer kleinen Fahne von seiner Uniform wehte. Der Leutnant sah aus den Augenwinkeln, wie der Feldwebel angestrengt mit seiner Pistole zielte. Obwohl er auf Hans nicht den Eindruck eines geübten Schützen machte, drückte er dem Mann den Arm sicherheitshalber nach unten und befahl Gross und Rollo, den Flüchtenden einzufangen.
    Die beiden machten sich fluchend auf den Weg. Obwohl sie nicht sonderlich schnell liefen, gab es für ihr Opfer in dem tiefen Schnee kein Entkommen. Der junge Soldat blieb plötzlich stehen, zitternd und die Augen so verdreht, dass nur noch das Weiße darin zu sehen war. Er wirkte wie ein Wild, das von Wölfen eingekreist war. Auf einmal hielt er eine Pistole in der Hand und richtete sie auf Rollo.
    In diesem Moment drückte Hans ab.
    Der Soldat ließ die Waffe fallen und fasste sich mit beiden Händen an die Stirn. Es sah aus, als versuchte er sein Blut festzuhalten. Dann fiel er tot in den Schnee.
    Rollo trat wütend nach der Leiche. »Dumme Sau!«
    Gross zog ihn zurück. »Spar dir die Luft. Er spürt’s nicht mehr.« Er hob die Pistole des Toten auf, zog das Magazin aus dem Griff. Es war leer.
    »Toller Schuss, Herr Leutnant«, gratulierte Hauptfeldwebel Schmidt ehrfürchtig. »Da merkt man gleich die Fronterfahrung.«
    Gross zeigte Hans stumm das leere Magazin. Der Leutnant packte den dicken Feldwebel am Kragen: »Das haben Sie gewusst! Das hätten Sie mir sagen müssen, Sie Idiot!«, schrie er ihn an.
    Er drohte dem zitternden M ann mit Kriegsgericht und Fronteinsatz, bis dieser jammernd seine letzten Reichtümer anschleppte, einen halben Sack Mehl und ein Kilo Butter. Der Leutnant befahl ihm, damit Pfannkuchen zu backen.
    In einer der Lehmhütten sank er erschöpft auf eine Pritsche. Ihm war übel. Der Bäcker war der erste Deutsche, den er erschossen hatte. Aber war das wirklich etwas anderes? War der Unterschied der Nationalität nicht nur eine zynische Illusion, ungefähr so, als wäre es schlimmer, einen mit einer roten Jacke zu erschießen als einen mit einer blauen? Im Grunde nahm er den Tod dieses Mannes nur deshalb wichtig, weil er glaubte, ein schlechtes Gewissen haben

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