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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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ängstlich flackernden Augen an.
    »Typhus?«
    Das Wort gehörte zu den wenig en, die die Männer noch freiwillig die Köpfe heben ließ. Hans schüttelte den Kopf. »Hunger.«
    »Was?« Rollo sah ihn misstrauisch an. Seitdem der Leutnant von dem Typhuskranken angefallen worden war, war Rollo vor ihm auf der Hut. Man konnte ja nie wissen.
    Hans warf einen letzten Blick auf die eingefallene Grube, wo sich früher einmal der Magen befunden haben musste, und zog die Feldbluse wieder darüber.
    »Er ist verhungert. Schaff ihn raus.«
    »Wieso ich? Ich komm grade von der Ablösung.« Rollo stieß Bubi mit dem Fuß an. »Geh du.«
    »Allein kann ich ihn nicht tragen« , flüsterte der Kleine schwach.
    Rollo stand ächzend auf, wartete, bis der erste Schwindelanfall vorüber war, und versuchte, die Leiche von der Pritsche zu heben. Obwohl sie nicht viel mehr als vierzig Kilo wiegen konnte, fiel sie ihm runter. »Scheiße, ich auch nicht«, fluchte er.
    Hans half ihm, sich das Knochengerüst auf die Schulter zu legen. Auch er war inzwischen so schwach, dass ihm der To d des Bäckermeisters aus Hameln völlig gleichgültig war. Nicht Schuld, Entsetzen, Ekel, Faszination, Grausamkeit, Angst zogen ihn in den letzten endgültigen Abgrund, sondern das fehlende Brot, die fehlende Butter, das fehlende Holz, der zu leichte Mantel. Er hatte als Offizier sterben wollen, und jetzt siechte er dahin, jämmerlicher als ein Sträfling, und das Schlimmste war, er hatte nicht die Kraft, seinem Leben ein eigenmächtiges Ende zu setzen.
    Wenn die Russen wenigstens angegriffen, sie in einem kurzen Gefecht vernichtet hätten! Aber si e taten ihnen diesen letzten Gefallen nicht.
    Vielleicht warten sie darauf, dass wir angreifen, dachte Hans. Aber dazu sind wir zu schwach. Zu schwach, um ins offene Messer zu laufen.
    Rollo grinste ihm verzerrt zu, und seine Zähne leuchteten übergroß zwischen den eingetrockneten Lippen. »Hauptsache, kein Typhus!«
    Hans nickte, trat zur Seite und se tzte sich wieder auf seine Pritsche. Vor seinen Augen flimmerte es.
    Der Tote fiel Rollo wieder von der Schulter. »Ich glaube, unser Bäckermeister will noch ’ne Leichenrede«, hörte Hans seine Stimme wie durch eine Wand. »Kommen Sie, Herr Leutnant.«
    »Das Inferno jeder einzelnen Seele ist bereits eine Unendlichkeit für sich«, murmelte Hans. »Deshalb sollten wir trotz allem Achtung davor haben, so gut es eben geht. Aber es geht nicht!«, stieß er plötzlich heftig hervor. »Multipliziert man dieses Unendlich mit der Anzahl der leidenden Menschen, dann erhält man ein Unendlich, das vielleicht dreihunderttausendmal größer ist, oder nicht?« Hilfe suchend sah er Gross an. »Gibt es ein größeres Unendlich?«
    Gross schwieg.
    Hans starrte das leblose Bündel auf dem Erdboden an. »Wenn schon die Humanität versagt, sollte man wenigstens die Mathematik zurate ziehen, was meint ihr?«
    »Rechnen ist was für Arschficker«, sagte Rollo. Die anderen nickten.
    »Bringt die Leiche raus!«, befahl Hans und verfiel wieder in die Rolle des Leutnants, die ihm um die Knochen schlotterte wie seine zerschlissene Uniform. »Fritz, hilf ihm!«
    Fritz wandte sich wortlos ab.
    Bubi und Rollo schaffte n den Hungertoten nach draußen.
    Hans fasste Fritz an der Schult er. »Was ist denn los mit dir?«
    Fritz zuckte mit den Achseln.
    Hans wollte wieder auf seine Pritsche zurückkriechen, als ihn Fritz plötzlich am Kragen packte, herumriss und endlich, endlich sagte, was er schon lange hatte sagen wollen und was durch immer neue Katastrophen verschüttet und beiseite gedrängt worden war.
    »Du hast versprochen, dein Onkel holt uns hier raus! Was ist jetzt damit? Du hast es versprochen, versprochen!«
    In hilfloser Wut schlug er mit den Fäusten gegen die Wände, und seine ganze Verzweiflung entlud sich in dem Gedanken, dass sie einen Ausweg gehabt hätten, wenn ihn sein angeblicher Offiziersfreund nicht verraten hätte, und verraten hatte er ihn immer wieder, allein durch das, was er war!
    Hans brauchte einen Moment, b is er sich überhaupt daran erinnerte. Es war alles so unendlich lange her, und es war doch mittlerweile alles so gleichgültig.
    »Was kann ich denn dafür?«, flüsterte er schließlich.
    Fritz starrte ihn wütend an. »Knallst du mich auch ab, wenn ich abhaue?«
    »Wo willst du denn hin?«, brüllte Hans so laut, dass die anderen hochfuhren. »Zu den Russen? Hau ab, haut alle ab, ich halte keinen!« Zitternd vergrub er den Kopf in den Händen. Was wollten

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