Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
sie denn noch von ihm? Sie sollten ihn endlich in Ruhe lassen!
Ein junger Kerl mit rissigem, verschrundetem Gesicht stand auf, sah sich scheu um und schlich zur Tür. Fritz fasste ihn am Arm und zog ihn zurück. »Mach keinen Blödsinn, Zabel! Für dich haben die da drüben auch nix zu fressen.«
»Die knallen dich genauso ab wie die zwei andern«, sagte ein Asthmatiker, der gerade seine schwarz gefrorenen Zehen untersuchte.
»Und wenn’s die Russen nicht machen, mach ich’s«, sagte Rollo, der mit Bubi wieder zurückgekommen war. »Damit das ein für alle Mal klar ist, hier haut keiner ab.«
Hans nickte müde. In solchen Situationen war ein klares Weltbild doch immer wieder von unschätzbarem Vorteil.
Gross schob die vereiste Zeltpla ne zur Seite und ging nach draußen, obwohl er gar keinen Wachdienst hatte.
Hans ging ihm nach.
60
D ie Kälte legte sich wie eine Maske auf sein Gesicht. Die Nacht war klar, fahles Mondlicht reflektierte auf dem Schnee. Die Silhouetten der Posten hinter den beiden MGs sahen aus wie festgefroren. Sie suggerierten dem oberflächlichen Beobachter – und der gesamte Generalstab war ein solcher – eine Ordnung und Opferbereitschaft, die es längst nicht mehr gab, denn jeder Mann, der da seit Wochen ohne anständige Verpflegung und Kleidung im Schnee stand, war nur noch ein Ausbund an Hunger, Verzweiflung, Apathie, Kältestarre, Wahnsinn, Hass. Es war nicht Mut, der die Männer noch weiter aushalten ließ, es war Furcht. Sie saßen in einer teuflischen Falle. Was einem Deserteur blühte, war klar, und die Angst vor dem Feind maß sich an dem Unrecht, das man ihm zugefügt hatte, und war dementsprechend groß.
Diesen Faktor konnte die deutsche Führung zuverlässig in ihre Berechnungen über den Durchhaltewillen einbeziehen; niemand wusste über die begangenen Verbrechen an der russischen Bevölkerung besser Bescheid als sie und ihr e Handlanger, die deutschen Soldaten.
Gross war nirgendwo zu sehen. Er konnte doch nicht einfach weggegangen sein, für immer, ohne ein Wort! Hans hastete den Graben entlang, suchte mit seinen Blicken die Schneefläche zu beiden Seiten ab. Das war Gross zuzutrauen – einfach zu verschwinden, seinen Leutnant beim Wort zu nehmen und zu den Russen überzulaufen.
Hans hatte schon fast den nächsten Abschnitt erreicht, als er ihn entdeckte. Gross stand im Graben und starrte nach drüben. Er hatte Bautz, ihren Jüngsten, abgelöst. Bautz waren in den letzten beiden Tagen drei Finger abgefroren.
»Sie haben wohl gedacht, ich hab mich dünn gemacht?«, fragte Gross.
»Und? Wollten Sie?«
Gross schüttelte den Kopf. »Man sollte es wirklich tun, aber ich bring es nicht fertig. Ich hab zu viele von denen dort drüben umgelegt. Ich kann nicht einfach rüberlaufen und um Gnade winseln.«
Hans nickte.
Gross lachte. »Wenn Sie wüssten, wie dankbar Sie jetzt glotzen! Aber Sie sollten die anderen morgen rüberschicken. Und Sie sollten auch gehen. Das wäre noch die letzte kleine Chance.«
»Wir kapitulieren sowieso in wenigen Tagen«, entgegnete Hans lahm.
»Unsinn. Haben Sie noch eine anständige Zigarette für mich?«
Mit gefühllosen Fingern holte Hans zwei zerknautschte Zigaretten aus der Brusttasche. Sie rauchten unter vorgehaltenen Handflächen.
»Was macht Ih re Melancholie?«, fragte Gross.
»Sie ist eingegangen. Erfroren.«
»Musk scheint recht zu haben. Die Kälte ist ein guter Medizinmann. Passen Sie nur auf, dass sie nicht wieder auftaut. Na ja, bei uns gibt’s so einiges, was nicht wieder auftauen sollte.« Gross starrte über die Schneefläche. »Der kleine, mittelmäßige Wahnsinn. Die kleinbürgerliche Depression eines kleinbürgerlichen, mittelmäßigen Spießers hat sich über die ganze Welt gelegt. Aber der Dilettantismus und die Mittelmäßigkeit spucken Helden aus, echte Tapferkeit, auch ehrenvolle Taten, und nichts ist schlimmer als das; denn damit wird der Dilettantismus gerechtfertigt.«
Hans schwieg. Er war so schwach, dass er kaum zuhören konnte, geschweige denn reden. Trotzdem tat ihm der Wortschwall gut.
Gross lauschte auf das gelegentliche Aufgrollen der Artillerie.
»Ein Sägen und Sagen überall«, murmelte er. »Ein Zersägen und Zersagen.«
»Reden Sie weiter«, flüsterte Hans. »Sonst erfrieren wir noch hier.«
»Metaphysisches Geschwätz. Worte wärmen nicht, und meine schon gar nicht. Wenn Sie Wärme brauchen, gehen Sie in den Unterstand.« Gross überprüfte das MG-Schloss,
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