Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
hatten.
Er stürzte zum Eingang. Der General, den die Schüsse, dicht neben seinem Ohr abgefeuert, vorü bergehend ernüchtert hatten, befahl ihm, zu bleiben, Munition zu sparen und mit jedem verfügbaren Mann gegen die zwei Panzer vorzugehen. Sofort!
Die unerwartete Schärfe in seiner Stimme brachte Musk wieder zur Besinnung.
Waffen wurden verteilt. Die Männer, die sich weitaus lieber in die Fluchtfahrzeuge verdrückt hätten, fluchten. Was musste der Alte sich ausgerechnet jetzt einmischen!
Sie waren sichtlich erleichtert, al s von Lausitz in Erfahrung bringen konnte, dass es sich bei den Panzern nicht um einen allgemeinen Angriff, sondern nur um zwei verirrte Spähfahrzeuge handelte, die wieder abgedreht hatten und im Nachbarabschnitt vernichtet worden waren. Die Frontlage bei Goncara habe sich stabilisiert.
Musk trat erneut vor den General, nahm Haltung an und bat um die Erlaubnis, nach den Deserteuren zu fahnden.
Hentz musterte Musks zerrissenen, schneebedeckten Mantel, sein vor Erschöpfung graues Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern. »Tun Sie Ihre Pflicht.«
Die Jagd auf Deserteure weckte deutlich mehr Begeisterung als die auf Panzer. Die Erbitterung darüber, dass die Schweinehunde auch noch von ihrem Essen gen ommen hatten, war groß. Freiwillige meldeten sich. Auch von Lausitz griff zur Waffe und forderte Rettenbacher auf mitzukommen. Dem war es draußen zu kalt.
Hentz hatte sich wieder hinter seinem Kognak verschanzt. Resigniert beobachtete er seine Untergebenen, die durcheinanderbellten wie ein Haufen Jagdhunde. Was für ein Aufwand für drei zerlumpte Kreaturen! Ausgerechnet der junge von Wetzland! Alter Offiziersadel!
»Das kann doch nicht sein«, m urmelte er und kroch in den wärmenden Nebel aus Alkohol und Wehleidigkeit zurück. »Das waren nette Menschen, und nette Menschen desertieren nicht.«
Er verlangte neuen Kognak und zitierte Friedrich den Großen:
»Es ist nicht wichtig, dass ich lebe, sondern dass ich meine Pflicht tue … Rettenbacher, ist noch was von meinem Hund da?«
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D ie Suchaktion scheiterte am Hund des Generals. Die warme Mahlzeit hatte den drei Deserteuren vorübergehend wieder so viel Lebenswillen eingehaucht, dass sie nicht aufzufinden waren. Wei tere Ursachen für den Misserfolg waren ein Schwächeanfall Musks und der für Stabsangehörige ungewohnt lange Aufenthalt in bestialischer Kälte. Von Lausitz schlug dem Hauptmann nach wenigen Minuten zitternd vor, die Vaterlandsverräter dem sicheren Erfrierungstod zu überlassen. Außerdem halte er es für dringend geboten, den Divisionsgefechtsstand sofort in die Stadt zu verlegen.
Der Hauptmann hörte ihn nicht. Nach Luft ringend, stützte er sich auf zwei junge Stabswachen, die ihm aus dem Schnee geholfen hatten. Zum ersten Mal war die Erschöpfung größer als sein Wille. Das war ein neues, niederschmetterndes Gefühl, das es unter allen Umständen zu überwinden galt.
Unwirsch befreite er sich von den Männern, die ihn weiter stützen wollten. Hentz, der alte Säufer, hatte recht. Es war Blödsinn, seine letzten Kräfte an drei Verräter zu verschwenden. Er hatte sich von seinen Gefühlen hinreißen lassen. Auch das war kein gutes Zeichen. Trotzdem hasste er den jungen Leutnant aus tiefstem Herzen. Vor allem, weil er nicht ganz sicher war, ob er ihn nicht doch unterschätzt hatte.
Ohne fremde Hilfe ging er zum Bunker zurück.
Die Motoren der Stabsfahrzeuge liefen bereits. Musk verfolgte angewidert den Streit um die Plätze. Offenbar waren neue, beunruhigende Nachrichten eingetroffen.
Er zerrte kurzerhand den Fahrer aus einem der Wagen und fuhr nach Gumrak zurück, wo der Rest seiner versprengten Einheit lag. Er würde kämpfen bis zuletzt.
Hans, Fritz und Rollo waren durch das ausgebrannte Dorf gelaufen und hatten sich hinter den Skeletten der Häuser verborgen. Dann hatte sie das näher kommende Geschrei ihrer Verfolger aus den Ruinen getrieben, und sie waren einem Trampelpfad über freies Feld gefolgt, der im Norden aus dem Ort herausführte. Die Flucht hatte die wiedergewonnenen Kräfte rasch aufgezehrt.
Orientierungslos schleppten sie sich durch den Schnee, stolperten über vereiste Fußspuren, über Leichen. Es war nur ein schmaler Weg, verweht, teilweise flach in die Landschaft gezeichnet, an anderen Stellen von hohen Schneewänden umsäumt. Steif gefrorene Arme, Hände streckten sich ihnen entgegen. Die Menschen, zu denen sie gehörten, waren vom Weg
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