Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
gutes Neues, Kameraden. Setzt euch.«
An Neujahr vor knapp drei Wo chen hatte er seine letzte Rindfleischkonserve gegessen. Das wusste er zwar nicht mehr, aber es war das letzte erfreuliche Ereignis in seinem Leben gewesen, und so war sein Gedächtnis dort stehen geblieben wie eine Uhr mit gesprungenem Räderwerk.
»Macht mal Platz! Wo bleiben eure Manieren?« Er schob einen der Toten beiseite. Der fiel um, Utta richtete ihn wieder auf.
Dann riss er ihm ein Stück von der Uniform ab, der Ärmel rutschte dem Toten bis über den Ellenbogen nach unten, und die drei sahen, dass sowohl Utta als auch der Tote erbsengroße schwarze Flecken auf der Haut hatten. Utta warf den Uniformfetzen in den Ofen. Die emporzüngelnden Flammen zauberten gespenstisches Leben in die eingesunkenen Augenhöhlen der Toten.
Rollo wich zurück. »Typhus. Nix wie raus hier!«
Fritz drehte sich um und schob Hans zurück, den immer heftigere Fieberschauer schüttelten. Hinter sich hörten sie ein leises Knistern. Es kam nicht aus dem Ofen, es waren auch keine Ratten.
Fritz entdeckte als Erster das Funkgerät, das in der Ecke zwischen zwei Leichen stand und aus dem undeutlich Stimmen drangen. Er versuchte das Gerät richtig einzustellen, zerrte Hans neben sich.
Hans begann an den Knöpfen zu drehen, Schalter umzulegen. Der technische Teil seines Gehirns fu nktionierte noch. Plötzlich hörten sie eine Stimme, undeutlich zwar, durch Pfeifen und Piepsen unterbrochen, aber von geistiger Klarheit, nüchtern, vernunftbestimmt, der Schwere der Stunde gelassen Rechnung tragend:
»Der Feldmarschall und ich haben von der Luftflotte eine Steigerung aller Mittel gefordert und um eine Untersuchung gebeten, warum in der letzten Nacht so wenige Flugzeuge eingeflogen sind. Die ersten vorgestern im Führerbefehl angekündigten Ju’s sind heute bei der Luftflotte eingetroffen. Es ist also zu hoffen, dass nunmehr schnellstens eine durchgreifende Änderung im Umfang Ihrer Versorgung eintritt …«
Der Vortrag löste sich in Satzfetzen auf.
»… General Hube hier gelandet … an oberster Stelle Ihre Lage anschaulich zur Darstellung bringen …«
Die drei schauten sich an, Fritz hob eine Maus hoch. »Das hätt er mitnehmen sollen. Der Führer ist Tierfreund.«
Der zweiten Stimme, die zweifellos einem hochrangigen Kesselinsassen gehörte, war trotz bemühter Sachlichkeit deutlich unterschwellige Panik anzumerken. »Wir können nicht den täglichen Ausfall von siebenhundert Kämpfern ersetzen. In einer Meldung der letzten Tage haben wir schon zum Ausdruck gebracht, dass wir seit der Kesselbildung bis heute rund vierzigtausend Mann verloren haben …«
Der Offizier außerhalb bekundete Mitgefühl.
»Dass die Luftflotte immer noch starken Kampfeinsatz fliegt, anstatt geeignete Flugzeuge für die Versorgung einzusetzen, halten wir für äußerst bedenklich. Nach einer uns vorliegenden Meldung hat die Luftflotte gestern vierhunderteinundsechzig Flugzeuge für den Kampf eingesetzt und nur zweiundfünfzig für die Versorgung, davon für uns nur sechsundsiebzig Tonnen. Unser Minimum liegt bei dreihundert!«
Trotz eines Wortschwalles beruhigender Versprechungen machte sich der Kesseloffizier weiterhin ernsthafte Sorgen.
»Wir kommen uns hier doch ein wenig verlassen und verkauft vor. Das Brot geht einschließlich dieser Zufuhr morgen zu Ende. Fett heute Abend. Mittagskost morgen für einige Stäbe nicht mehr vorhanden …«
Fritz begann zu lachen, der Sanitätsgefreite Utta fiel ein, obwohl zweifelhaft war, dass er dem Vortrag hatte folgen können. Rollo starrte verständnislos auf den Apparat. Was quatschen die noch von irgendwelchen Tonnen, Mittags- und Abendkost, während sie längst Hunde und Mäuse fraßen? In welchem Teil des Kessels hockten die denn?
Der Vortrag ging weiter. Bis auf Punkt und Komma wurde das Krepieren bis zum Ende verwaltet. Organisiertes Sterben, dachte Hans, darin sind wir einmalig!
»Ich habe bereits eine Überprüfung der Beladung der Flugzeuge angeordnet … halte es für sinnvoller, dass die Luftwaffe Brot zu uns fliegt, statt wirkungslose Löcher in die Front von Tazinskaja zu bomben … Bitte lassen Sie durch den Oberst Finckh prüfen, ob unser Oberquartiermeister Bader noch an der richtigen Stelle sitzt …«
An dieser Stell e musste Fritz noch mal lachen.
»Sonst habe ich nichts mehr. Schönen Gruß.«
»Wird ausgerichtet. Herzlichen Gruß.«
Die freundlichen Schlussworte verwandelten sich in gleichmäßiges
Weitere Kostenlose Bücher