Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
abgekommen und im tiefen Schnee der seitlich verlaufenden Gräben ertrunken.
Hans ging, vorwärtsgetrieben von Fritz und Rollo, an der Spitze. Plötzlich ertrank auch er. Haltlos glitten seine Füße tiefer, eine weiße Woge schlug über ihm zusammen, Schnee füllte seinen Mund, er hatte das Gefühl, endlos zu fallen.
Fritz riss ihn an die Oberfläche zurück. Es war eine schmale Rinne, wahrscheinlich ein gefr orener Bachlauf, ungefähr mannshoch. Hinter der Schneeverwehung, in die Hans gefallen war, zeichneten sich an den Seitenwänden dunkle Flecken ab.
Fritz und Rollo ließen sich ebenfalls in den Graben gleiten und tasteten sich auf die Flecken zu. Es waren Unterstände, seitlich in die Erde gehauen. Die mit Bettgest ellen, Steinen, Eisenteilen verbarrikadierten Eingänge zeigten an, dass Eindringlinge jeder Art unerwünscht waren. Keine Fußspuren im hüfthohen Schnee. Wenn es hier noch Überlebende gab, so hatten sie ihre Behausung seit Tagen nicht verlassen.
Fritz pirschte sich an einen V erhau heran und machte sich vorsichtig bemerkbar. »Keine Feldpolizei!«, rief er halblaut. »Wir sind Kameraden. Lasst uns rein!« Keine Antwort. Wütend rüttelte Fritz an der verschlossenen, von innen vermutlich verbarrikadierten Tür. »Lasst uns rein, ihr Schweine! Lasst uns rein!«
Rollo schaute sich ängstlich um. »Hör auf, vielleicht ist der Hauptmann noch in der Nähe!«
»Die haben Besseres zu tun. Die türmen.«
Hans sank erschöpft in den Schnee, sein Gesicht glühte. »Die hauen ab, und wir sind die Feiglinge«, murmelte er. Etwas braune Flüssigkeit tropfte aus seinem Mund. Er wischte sie weg. »Ich kann nicht mehr denken.«
Fritz stellte ihn wieder auf die Be ine. Sie mussten irgendwie reinkommen. Draußen würden sie die Nacht nicht überleben.
Gemeinsam begannen sie an dem Bettgestell zu ziehen und zu zerren. Es rührte sich nicht von der Stelle. Keuchend starrten sie einander an. Früher hätten sie so etwas mit einer Hand erledigt.
Rollo fuhr Fritz beinahe zärtlich über die eingefallenen Wangen.
»Siehst aus wie ’ne kaputte Kartoffel«, flüsterte er und versuchte zu grinsen. »Verschrumpelt.«
Fritz holte seine letzte Handgranate aus seiner Gasmaskenbüchse, befestigte sie an dem Gestänge, zog ab. Rollo stand mit hängenden Armen daneben. Plötzlich fiel ihm etwas ein.
»Mensch, da s ind vielleicht Kameraden drin!«
»Schweine, die uns erfrieren lassen.«
Fritz zögerte, dann schrie er: »Geht von der Tür weg, ihr Arschlöcher ...«
Es war nicht mehr als ein heise res Krächzen, sodass wenig wahrscheinlich war, dass sie ihn gehört, geschweige denn verstanden hatten.
Die Explosion legte den Eingang frei.
75
V orsichtig, die Waffe im Anschlag, betrat Rollo einen niedrigen Gang, Fritz folgte ihm, zog Hans hinterher. Bestialischer Gestank schlug ihnen entgegen.
Am Boden, Rücken an der Wa nd, saßen Männer, die Beine ausgestreckt. Zwischen ihnen verglühten Abfälle aller Art in rostigen Konservendosen. Als Rollo über ein ausgestrecktes Bein stolperte, erfolgte keine Reaktion. Da waren Gesichter, Augen, Backenknochen, verschmolzen mit Gewickel und Gehänge, die Nasen vorstechend aus weiß gefrorenen Furunkeln und Barthaar, und keine Regung, nichts. Nur an schwachen Dampfwölkchen, die den kraftlos auseinanderhängenden Kiefern entströmten, war zu erkennen, dass sie noch lebten.
Dann einer, noch kräftig genug zu einer Bewegung. Er entblößte seine Schulter, zeigte eine riesige Eiterbeule, flüsterte: »Kann nicht mehr, kann nicht mehr, kann nicht mehr …«
»Schon gut, wir wollen nichts von dir, wir holen niemand.«
Sie sahen Licht am Ende des Ganges und traten in ein Gewölbe, in dem ein qualmender, rußgeschwärzter Ofen stand. Davor saßen vier Männer um eine leere Munitionskiste. Auf der Kiste lagen einige sorgfältig abgezogene und ausgenommene tote Mäuse.
Einer der Männer, dessen wachsbleiches Gesicht konturlos im Qualm schimmerte, entnahm einer Falle ein weiteres Tier und schnitt ihm die Eingeweide heraus. Er verteilte das rohe Mäusefleisch an seine Kameraden, die regungslos sitzen blieben und keine Hand danach ausstreckten, weil sie tot waren. Der Mann, es handelte sich um den ehemaligen Sanitätsgefreiten Utta, schien das noch nicht bemerkt zu haben.
Seine Augen blinzelten kurzs ichtig durch den Qualm, entdeckten die drei Neuankömmlinge, sein Mund verzog sich erfreut, zeigte schiefe, gelbe Zähne und graues Zahnfleisch. »’n
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