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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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auf den Boden, wollte auf den Pfarrer losgehen. Fritz hielt ihn zurück.
    Der Pfarrer blieb überraschend gelassen. Das waren nicht die ersten Verrückten, mit denen er ins Geschäft gekommen war. »Es wäre sehr töricht, mich zu erschießen«, sagte er langsam. »Ich bin nämlich der Einzige, der euch hier rausbringen kann.«
    Rollo wollte erneut auf ihn los. »Wollt ihr euch die Scheiße anhören? Der will doch nur Zeit gewinnen, bis seine Freunde, die Kettenhunde, aufkreuzen!«
    »Ich will überleben«, erwiderte der Pfarrer schlicht. »Genau wie ihr. Aber im Gegensatz zu euch weiß ich, wie’s geht.«
    »Machen Sie’s kurz«, sagte Hans.
    Der Pfarrer sah ihn erleichtert an. »Lebensmitte l in diesem Umfang stellen im Kessel, wie ihr euch sicher vorstellen könnt, einen erheblichen Wert dar. Wenn man die richtigen Leute kennt, kann man dafür mit Sicherheit so viele Wertsachen einhandeln, dass man von den Russen durch die Linien geschleust wird.«
    Die vier brauchten eine Weile, bis sie begriffen. Das Unternehmen bekam eine völlig neue Dimension. Es ging nicht mehr nur um ein paar ordentliche Mahlzeiten vor dem Sterben oder Dahinsiechen in Kriegsgefangenschaft, es gab plötzlich wieder die Hoffnung auf Rettung, auf ein Leben danach. Das war so ungeheuerlich, dass sich ihr Verstand weigerte, es zu akzeptieren. Verzweifelt kämpfte Fritz gegen die Tränenflut an, die sich in ihm zusammenballte.
    »Wirklich? «, krächzte er. »Nach draußen?«
    Der Pfarrer nickte.
    Gross’ dürre Hände schossen plötzlich vor und umklammerten den Hals des Pfaffen. »Du lügst«, zischte er, und seine Augen glühten. »Sag, dass du lügst!«
    Er hatte versucht sich totzukämpfe n, sich totzulaufen, sich totzudenken. Er war Schritt für Schritt weiter in die Finsternis gegangen, getrieben von seinen Schatten. Er hatte keine Angst, bis zum Ende zu gehen, aber jetzt noch einmal umzukehren, den ganzen Weg zurückgehen, das konnte er nicht. Niemals!
    Seine Finger krallten sich zu sammen und die drei anderen hatten Mühe, den Pfarrer aus seinem Griff zu befreien.
    »Vielleicht lügt er, vielleicht a uch nicht. Das wird sich herausstellen«, sagte Hans. »Wir nehmen ihn mit.«
    Hustend und nach Luft japsend versuchte sich der Pfarrer zu bedanken.
    »Nimm dir ’ne Kiste und halt’s Maul!« Rollo drückte ihm eine Proviantkiste in die Hände.
    Gross ging mit Fritz zur Treppe, um den Lastwagen zu holen. Er nahm ein Stück Wurst vom Tisch, biss ab und bot es Fritz an. Sie stiegen die Treppe hinauf und traten ins Freie.
    Fritz kaute, und Gross sah ihm zu, bis Fritz mit vollen Backen lächelte.
    »Siehst du«, sagte Gross, »es geht immer weiter. Bis es aufhört. Das ist das ganze Leben.«

 
     
     
     
     
     
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    E in starker Nordostwind hatte die Rauch- und Dunstschleier über der Stadt weggefegt. Gleißendes Licht und eisige Kälte ergossen sich über die Steinwälle und bizarren Mauerreste.
    Der Lastwagen war angesprunge n. Sie hatten ohne Schwierigkeiten ein Erfassungskommando passiert. Der Posten hatte nur kurz in den Lauf von Gross’ MPi gestarrt und sie durchgewunken. Anschließend hatte er sich wieder den müden Gestalten zugewandt, die zusammengetrieben worden waren.
    Sie hatten den Lkw mit Lebensmitteln beladen und den Rest den aus den Kellerlöchern kriechenden Marodeuren überlassen.
    Sie fuhren davon und verbanden dem Pfarrer in einem Hinterhof ein paar Straßen weiter die Augen; führten sich vorsichtig weitere Nahrung zu; Gross und Hans kundschafteten einen Keller aus, der bis auf wenige steif gefrorene Grenadiere verlassen war. Sie räumten ihn aus, zogen ein, bauten den Ofen auf und machten Feuer. Sie stellten Bettgestelle in die Ecken und belegten sie andächtig mit Federbetten und Kissen. Sie schleppten Konserven, Flaschen, Säcke nach unten und stapelten sie an den Wänden, setzten sich mit gefalteten Händen davor wie vor einen Altar, verbarrikadierten den Eingang und sicherten ihn mit einem Faden, den sie quer spannten und mit einer Handgranate verbanden.
    Vorübergehend hatten sie di e Gefahr des drohenden Zusammenbruchs völlig verdrängt und richteten sich ein, als könnten sie für Monate in diesem Keller bleiben. Die Front und der Krieg waren mit einem Schlag weit weg. Sie füllten Schnee in zwei Töpfe und tauten ihn auf dem Ofen auf. Schälten sich langsam und stückweise die Kleidung vom Leib. Geschwüre platzten, es wimmelte von Läusen. Das Verbrennen der Kleidungsreste wurde zu einem

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