Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
eingefallen?«
Hans stand auf, ging um den Tisch und blieb kurz neben Gross stehen. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Seine Hand machte eine vage Geste, ein hilfloser Versuch, sich Gross zu nähern. Aber der Mann, den er gehasst, gefürchtet, verehrt, geliebt hatte, blieb unendlich weit von ihm entfernt.
Hans verschwand hinter der Zeltbahn.
»Schaut nicht so dämlich!« Gross hob die Schultern. »Er hat recht. Ich werde auch da reingeh en und noch einmal eine Frau beschlafen, wenn ich kann. Die letzte Besteigung des Otto Gross.« Scheinbar erschrocken presste er die Finger auf den halb geöffneten Mund. »Ich sollte nicht so gemein darüber reden, sonst wird es nicht schön.«
»Halt’s Maul!«, herrschte Fritz ihn an. Ja, auch er wollte noch einmal etwas wie Zärtlichkeit fühlen, bevor er draufging, und auch ihm war es scheißegal, ob das der Frau gefiel oder nicht. Aber sie sollten es einfach tun und nicht dauernd darüber quatschen.
Rollo zog das Skatspiel aus der Rocktasche, das er den erschossenen Feldgendarmen abgenommen hatte, mischte und teilte aus.
»Drei Bock, drei Ramsch. An der Pik zehn ist hinten Blut dran. Ich sag’s nur, damit jeder Bescheid weiß.«
Gross und schließlich auch Fritz nahmen zögernd die Karten auf. Die verblassten Bilder darauf waren wie ein letztes Stück alter Wirklichkeit, an das sie sich mit ihren halb erfrorenen Fingern klammerten. Die Herzdame sah richtig gut aus.
Rollo begann zu reizen und beka m das Spiel. »Vier Leute ist eigentlich optimal für ’ne Freundschaft. Können drei Skat spielen, während sich einer um die Frau kümmert.«
»Dan n spiel endlich!«, sagte Fritz.
»Kreuz«, sagte Rollo.
»Kontra«, sagte Gross.
Hans stand seit geraumer Zeit neben dem Lager, auf dem sie saß. Sie hatte sich weder gewaschen noch etwas gegessen und verharrte ebenso regungslos wie er. Seine Augen starrten auf die kahlen Erdwände. Der Raum kam ihm vor wie eine Todeszelle. Seitdem er ihn betreten hatte, fühlte er sich wie erfroren.
Was hatte er getan? Zu welchem Zweck hatte er sie hierhergebracht? Seine früheren Gedanken hatten auf einem Gle tscher Platz genommen, an dessen Fuße er stand, während er hilflos emporsah. Unter einer dicken Eisschicht zur Miniatur verkleinert, betrachtete er sein Vorhaben wie das Treiben eines fremden Eingeborenenstammes, dessen Riten man nicht recht versteht.
Langsam, wie das Wasser von der Decke, tropften Teile seiner Person in ihn zurück. Das Mädchen schien noch kleiner, gebrechlicher geworden zu sein. Ihr Gesicht war völlig verschmiert. Er zögerte, nahm dann den Lappen aus dem Wassertopf und wollte ihr damit die Wangen abwischen. Sie drehte den Kopf zur Seite.
»Ich weiß, dass du mich erkannt hast«, murmelte sie. »Auf was wartest du noch? Ich hab versucht, dich zu töten. Leider ist es mir nicht geglückt.«
»Komm her.« Seine Stimme war brüchig. Er versuchte es erneut, und diesmal ließ sie zu, dass er ihr übers Kinn wischte.
Plötzlich zuckte sie vor Schmerz zusammen. Unter der Schminke tauchte ein großer schwarzblauer Fleck auf.
»Waren die das?«
Das Mädchen nickte. »Seit drei Wochen, jeden Tag .«
»Ich dachte … Du warst verwundet …«
»Wenn sie betrunken waren, war ihnen das ziemlich egal. Dir ist es doch auch egal.« Sie lachte auf, hustete. »Wenn du Angst vor Krankheiten hast, solltest du es lieber lassen. Aber du hast ja schon mal für das Vergnügen mit mir dein Leben riskiert.«
»Ich hatte dir mein Ehrenwor t gegeben.« Der Satz war ihm herausgerutscht. Er war in einer seiner Gehirnwindungen liegen geblieben wie ein vergessenes Buch in einem verstaubten Regal. Die Russin lachte verächtlich. Die Laute brannten auf seinen Wangen. »Es war idiotisch von mir. Ich dachte damals noch, man könnte den Krieg für einen Moment vergessen. Aber das geht nicht.«
»Nein.«
»Inzwischen hab ich auch das begriffen.«
Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass sie nicht durch ihn hindurch-, sondern ihn ansah. »Tust du mir einen Gefallen?«
»Welchen?«, hörte er sich fragen.
»Erschieß mich, bevor du mich an die anderen weiterreichst.«
»Das kann ich nicht.« Er hörte sich selbst wie einem Fremden zu. »Sie sind nicht schlimmer als die anderen Männer oder als ich. Du wolltest mein Leben, wir wollen nur eine Nacht. Ist doch kein schlechter Tausch.«
Sie nahm ihm den Lappen w eg, mit dem er noch immer mechanisch über ihr Gesicht wischte. Ihre Augen flackerten. »Was bist du? Nur ein
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