Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
können, und diese Euphorie, eine Steigerung des Extremgefühls vergangener Kampferlebnisse, ein Rausch, bei dem er die Tat bereits in Gedanken beging, bestärkte in ihm den Wahn, durch eine letzte rituelle Handlung erlöst zu werden.
    Als ihnen wieder die Binden umgelegt wurden, sah die Russin Hans zum ersten Mal an. Er merkte, dass auch sie ihn erkannt hatte und dass sie wusste, was sie erwartete.

 
     
     
     
     
     
    88
     
     
    A uf dem Rückweg sprachen sie kein Wort. Als die Russin vor Kälte zu zittern begann, legte Hans ihr seinen Mantel um die Schultern. Ansonsten geschah nichts. Sie erreichten ihr Versteck ohne Zwischenfälle.
    Der Arzt hatte gekocht und einen Schatten von Behaglichkeit in ihr Kellerloch gebracht. Nudeln mit Fleisch. Rollo nötigte der Russin aus durchsichtigen Gründen eine besonders große Portion auf, von der sie nichts aß. Im Nebenraum baute er aus Matratzen und Decken ein breites Bett. Sie verfolgte seine Vorbereitungen mit leblosen Augen.
    Die anderen Männer wichen ihren Blicken aus. Jeder wusste, was geschehen würde, aber keiner wollte sich etwas anmerken lassen. Ihre Bewegungen wurden schüchtern, linkisch, fast furchtsam. Sie wirkten wie ein Rudel Wölfe, das einen Flammenhaufen umkreist.
    Rollo taute Schnee auf, wartete, bis das Wasser heiß war, und bedeutete der Russin, mit in den Nebenraum zu kommen. Sie folgte ihm mit gesenktem Kopf und kleinen Schritten. Die Männer waren erleichtert, als sie verschwunden war.
    »Einmal noch eine Frau, bevor man verreckt«, murmelte der Arzt mit einem unsicheren Blick in die Runde. »Wir tun ihr ja nichts.«
    Rollo verhängte den Einga ng zum Nebenraum mit einer Zeltbahn. »Wer hat gesagt, dass du ran darfst?«, knurrte er. Seine Hand klatschte auf den Rücken des Pfarrers. »Was ist mit Ihnen, Hochwürden? Wollen Sie sich nicht in die Liste eintragen?«
    Der Pfarrer starrte gequält auf seine Hände. Der Gedanke an das Flugzeug, in das er morgen Abend hoffentlich steigen würde, ließ ihn schweigen.
    Rollo setzte sich an den aus Kisten improvisierten Tisch und stellte Spekulationen über das Aussehen der Russin in gewaschenem Zustand an. Hans hasste ihn dafür. Er suchte den Blick von Gross, der ebenfalls die ganze Zeit geschwiegen hatte. Er sah höhnische Verachtung in seinen Augen und, schlimmer noch, beinahe so etwas wie Mitleid.
    Gross wandte sich ab, stand auf und setzte dem Hauptmann, der im Schlaf zu wimmern begonnen hatte, eine neue Spritze. Hans verfiel in eine merkwürdige Starre, er sah Bilder, Träume, in denen er sich schreiend vor Lust und Eke l über verstümmelte Leichen hermachte, und die rasch wechselnden Schemen endeten in einem letzten klaren Bild: sein Geschlecht in eine heftig blutende Geschosswunde getaucht.
    Würgend wollte er die Augen aufreißen, nur um festzustellen, dass er sie überhaupt nicht geschlossen hatte. Seine Glieder waren taub. Er konnte sich minutenlang nicht bewegen. Er lebte noch, aber sein Körper war tot. Er hatte seinen abgestorbenen Körper überlebt.
    Er kicherte mit geschlossenem Mund über die Banalität dieses Todes, der ihm nur eine weitere kleine Stufe auf seinem Weg in den Wahnsinn zu sein schien, ein Weg, der länger war, als er jeden Tag glaubte.
    Es musste einige Zeit vergangen sei n. Eine Batterie leerer Schnapsflaschen stand auf den Kisten. Allmählich kehrte das Gefühl in seine Glieder zurück. Undeutlich hörte er Rollos vom Alkohol schwankende Stimme.
    »Ich hab ihr gesagt, sie soll nicht zu arg schrubben, sonst bleibt nix mehr von ihr übrig.« Nieman d lachte. Sein rechter Arm stolperte gegen die leeren Flaschen. »Der ging’s die letzten paar Wochen besser als uns. Für das Fressen und die Klamotten hätt ich mich fünfzigmal am Tag durchnehmen lassen.« Er kippte das letzte Drittel seiner Flasche in sich hinein und bekam Schluckauf. »Also, machen wir’s nach Dienstgrad. Der Hauptmann fällt ja wohl aus, der Leutnant pennt, Gross und ich losen. Fritzchen, du kommst leider als Letzter dran.« Er grinste den Arzt breit an. »Von Ausländern und Zivilisten wollen wir gar nicht reden.« Er blinzelte durch die leeren Flaschen, fegte sie vom Tisch. »Herr Leutnant, aufwachen!«
    »Wir bringen’s eh nicht mehr«, murmelte Fritz.
    »Hast du ’ne Ahnung!« Rollo sah die geöffneten Augen des Leutnants, starr, blau, unbeweglich. Er zog seine Hand zurück und grinste verunsichert. »Was ist denn, Herr Leutnant? Ist Ihnen der Name Ihrer Freundin, die Sie zu Hause haben, wieder

Weitere Kostenlose Bücher