Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
nicht nur einen sensibel formulierten Beileidsbrief an Feldmanns Frau verfasst – auch das hatten sie auf der Offiziersschule gelernt –, sondern auch ein Schreiben an seine Mutter, in dem er sie inständig bat, sich bei seinem Onkel, dem Oberst von Wetzland, für seine sofortige Versetzung aus Stalingrad einzusetzen, falls sie ihren Sohn jemals wieder lebend oder in einem lebensähnlichen Zustand zu sehen wünschte. Ein Kampftag hatte genügt, um ihm klarzumachen, dass hier kein Platz für ihn und seine Ideale war. Dieser Ort war das Schlachtfeld primitiver Schlächter und Totschläger, ein idealer Platz f ür Sadisten, Triebtäter, Psychopathen.
Haller, dessen Feigheit er vor wenigen Stunden noch verachtet hatte, wurde ihm beinahe sympathisch. Ein normaler Mensch unter Wahnsinnigen. Doch wie sollte man normal bleiben unter diesen Verhältnissen und unter Menschen, die für ihr Treiben in Friedenszeiten umgehend hingerichtet worden wären?
Der Leutnant betrachtete den neuen Mann, den der Zufall und zwei Proviantkübel in seine Truppe geweht hatten. Eine hohe Stirn unter wirr auseinanderstehende n Haarresten, scharfe Mund-, Nasen- und Kinnfalten, tief in den Höhlen liegende bernsteinfarbene Augen, die nicht mehr nach außen, sondern ins Gehirn ihres Besitzers zu blicken schienen. Eine weit vorspringende Nase war das Einzige an ihm, das nach vorn strebte und wie zum Hohn eine von Optimismus angehauchte Komik in das graue Leichengesicht zauberte.
Dieser Mann war kein Held, e r war der Krieg. Den Körper zerschunden, die Augen erloschen, die Gefühle verbrannt existierte er nur noch als ein Treppenwitz des Schicksals. Außerfleischliche Mächte schienen ihn mit seiner widerwilligen Duldung zusammenzuhalten.
Hans sah in dieses Gesicht wie in einen Spiegel in ferner Zukunft und wandte rasch den Blick ab. Er musste hier raus, so schnell wie möglich.
Pflüger, von solcherlei Gedankengängen nicht angekränkelt, kämpfte sich währenddessen breitbeinig zu den Kanistern durch, um auch dem Leutnant eine Fleischportion zu besorgen.
Hans winkte ab. Die Lust auf Fleisch war ihm angesichts der herumliegenden Leichen abhandengekommen. Pflüger ärgerte sich. Es ging nicht darum, ob der Leutnant Fleisch mochte oder nicht, es ging ums Prinzip.
Der einzige überlebende Essenholer hatte inzwischen seine Fleischportion an sich genommen und fraß sie mit unglaublicher Schnelligkeit. Pflüger sah ihm für einen Moment fassungslos zu, dann packte er den Mann wütend an der zerschlissenen Uniform.
»Wenn du mich in die Hölle schicken willst«, sagte das Skelett kauend, »da war ich schon.«
Erst da fiel Pflüger auf, dass dem Mann die Schulterklappen fehlten. Rasch, als hätte er Angst, der Virus der Degradierung könne sich auf ihn übertragen, ließ er ihn los.
»Sie sind ja ein Sträfling!«, stammelte er, fing sich jedoch schnell wieder. »Wie heißen Sie?«
»Gross«, sagte der Neue.
»Ja, und weiter?«
Gross schien einen Moment nachzudenken. »Meinen Vornamen hab ich vergessen.«
Pflüger nahm ihm wütend die Maschinenpistole ab. »Sie sind nicht berechtigt, eine Waffe zu tragen!«
»Nimm sie am besten mit ins Bett«, schlug Rollo vor.
Pflüger zog sich beleidigt zurück, stolperte im Halbdunkel über eine Russenleiche. »Räumt endlich mal die Kadaver hier weg, das ist ja ekelhaft!«
»Hat einer ’n Staubsauger dabei?«, fragte Rollo.
Gelächter.
»Das ist ein Befehl!«, schrie Pflüger.
»Das wird nicht nötig sein«, sagte der Leutnant.
Alle sahen ihn an – und schienen sich zu wundern, dass er überhaupt noch da war. Er konnte es selbst kaum glauben. Wo waren die Ereignisse des Tages geblieben? Plötzlich war alles wie weggeblasen, aber es gab keine Erleichterung, stattdessen fühlte er sich leer und müde, und dennoch hatte er das Gefühl, nicht schlafen zu können. Nur die Gewissheit, dass seine familiären Verbindungen ihn bald erlösen würden, machte die Gedanken an die nächste Zukunft erträglich. Das Rudel Wölfe um ihn durfte nicht merken, wie ihm zumute war.
»Wir ziehen in den ersten Stock um, zu Köhlers Gruppe«, sagte er mit erzwungen fester Stimme. » Ist besser, falls wir Besuch bekommen.«
Schweigend schulterten die Landser ihre Tornister. Hans fragte sich, ob sie ihn durchschaut hatten. Schon möglich, dachte er. Es war ihm gleichgültig.
20
I hr Quartier hatte sich nicht wesentlich verändert, bis auf den Umstand, dass es oben noch mehr Löcher in
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