Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
»Hinsetzen! Beide! Sofort!«
Rollos Hand zuckte. »Sie werden ab jetzt ›Sie‹ zu mir sagen, Obergefreiter Reiser! Verstanden?«
Einer von Pflügers Pionieren schob sich zwischen die beiden.
»Könnt gleich weitermachen. Muss meim kleinen Mann nur mal die große Welt zeigen.«
»Na, geh schon!« Rollo ärgerte sich. Der Dicke hätte sein Fett weggekriegt, aber jetzt war die Luft raus.
Der unfreiwillige Friedenstifter ging an ihnen vorbei, nahm einen letzten Zug aus der Zigarette, schnippte die Kippe vor sich auf den Boden und öffnete gemütlich den Hosenschlitz.
Wehmütig erinnerte er sich an die samstägliche Wette vor seiner Dorfkneipe nach dem letzten Bier. Wer die Zigarette als Erster gelöscht hatte, war der Gewinner gewesen.
Er lenkte den Strahl auf die Glut. Irgendwo fiel wieder ein Schuss.
Der Mann kippte um. Seine Zigarette brannte immer noch.
Jetzt waren sie nur noch einundvierzig.
»Verdammt noch mal, ich hab doch gesagt, hinsetzen!«, brüllte Pflüger.
Der Leutnant tastet sich gebückt zu ihnen. »Was ist passiert?«
»Kopfschuss durch Scharfschützen, Herr Leutnant!«, meldete Pflüger vorschriftsmäßig. Er machte eine Handbewegung in Bubis Richtung. »Legt ihn nach da hinten.«
»Er ist nicht mal mehr zum Pissen gekommen«, sagte Rollo.
»Unsere Pioniere werden immer weniger.« Wölk wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich bin seit zwei Monaten hier, und ich sag euch, die Stadt hat was Magisches, w ie ’n Weib, die ist verflucht.«
Die anderen nickten. Rollo und Fritz hatten den Toten neben Bubi geschleppt und wollten wieder zurückkriechen.
»Ihr habt mich alle schon abgeschrieben.« Bubis Stimme war ganz dünn.
Rollo ertrug seinen Blick nicht, drückte ihm verlegen eine Zigarette in die Hand. »Hier, Junge. Rauch, aber lass mich in Ruhe.«
Fritz zögerte und setzte sich nebe n Bubi. Dieser starrte die Zigarette an. »Ich rauch nicht. Wird mir immer schlecht.«
Fritz nickte, nahm ihm die Zi garette aus den Fingern und zündete sie sorgfältig an. »Ich weiß.«
Er inhalierte tief und überlegte , ob er sich auch neben Bubi gesetzt hätte, wenn der die Zigarette nicht von Rollo bekommen hätte. Er kam zu dem Ergebnis, dass das unter den gegebenen Umständen eine überflüssige Frage war, und inhalierte erneut tief und genussvoll.
»Ihr denkt doch alle, ich krepier .« Bubi sah ihn an. Er hatte immer noch den Stahlhelm auf, der ihm viel zu groß war. »Habt ihr auch schon entschieden, wer meine Stiefel kriegt?«
»Mir wären sie zu klein«, sagte Fritz und nahm Bubi den Helm ab. Seine Haare waren verdreckt und verklebt und standen in wirren Büscheln vom Kopf ab. Wie ein Igel, dachte Fritz.
»Was denkst du?«, fragte der Klein e. »Wann wird’s mich erwischen?«
»Ich denk nix«, brummte Fritz. »Weil, wenn du hier anfängst zu denken, wirste verrückt, also denk ich nix.«
»Und wie geht das?«
Fritz fasste Bubis Ohr. »Hier ist ’n Schalter. Den drehst einfach rum, und schon denkst nix mehr.«
Bubi lächelte, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Verlegen wischte er sie weg. »Entschuldigung.«
»Sei froh«, sagte Fritz. »Solange noch flennen kannst, ist alles in Ordnung.« Er grinste. »Bei guter Schmierung läuft jeder Motor.« Er genehmigte sich einen Schluck Schnaps aus der Feldflasche, der ihm ebenfalls Tränen in die Augen trieb.
So heulte jeder auf seine Art.
Der Leutnant erhielt die telefoni sche Versicherung, dass Verpflegungsträger im Anmarsch seien. Die Hoffnung auf Nahrung ließ alles zu den Waffen stürzen. Sie beobachteten das Vorfeld durch die Schießscharten.
Pflüger und Rollo organisierten den Feuerschutz. Selbst Fritz drängte sich mit ungewohntem Eifer zu einem der MGs durch. Nun, da es ums Essen ging, wollte jeder dabei sein.
Im Aufblitzen der Geschütze glaubten die Soldaten, die Essenholer auszumachen.
»Wird auch Zeit!« Wölk schluckte. »Krieg auf leeren Magen is nix.«
Plötzlich standen die Träger im Schein dreier Leuchtraketen. Ihre Schrecksekunde genügte den russischen Scharfschützen.
Pflüger hieb wütend gegen die Kellerwand. »Verdammte Sauzucht, alle flach gebügelt. Das gibt’s doch nicht!«
Rollo hielt sich den Feldstecher an die Augen und besah sich im Schein der feindlichen Leuchtkugeln die toten Melder. »Da ist der Arsch ab und das Gulasch im San d.« Dann entdeckte er einen hinter Geröll wegtauchenden deutschen Stahlhelm. »Mensch, da ist ja noch einer!«
Fritz riss Edgar den Feldstecher aus der Hand. Rollo wies
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