Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
den Mauern gab, durch die der böige Wind den Regen trieb. Zu beiden Seiten eines trüben Rinnsals, das sich durch die Mitte des Raumes zog, ließen sich die Soldaten nieder, wobei sich die unteren Dienstgrade als Wärmepuffer vor die kalten Außenwände zu setzen hatten. Piontek hatte »seinen« Ofen nach oben geschleppt und sich dadurch das Recht erkauft, ihn zu füttern und seine Wärme ständig zu genießen.
Die Männer dämmerten ersch öpft vor sich hin. An allen Öffnungen, von denen zwei mit MGs gesichert waren, hatten Wachposten Stellung bezogen. Um sie am Einschlafen zu hindern, hatte sich Pflüger etwas Besonderes einfallen lassen: Er hatte Stricke um ihre Knöchel gebunden, die zu ihm führten und an denen er in regelmäßigen Zeitabständen zog, was ihm selbst im Halbschlaf gelang.
Es war bitterkalt. Man schmieg te sich aneinander, um vom Nachbarn einen Funken Wärme aufzusaugen. Trotz aller Müdigkeit konnten die meisten nicht schlafen, es sei denn, man bezeichnete die kurzen ohnmachtähnlichen Anfälle als Schlaf, aus denen sie immer wieder emporschreckten, sich geradezu herauskämpften wie aus einem dunklen Labyrinth, um dann wieder zitternd dazusitzen, den Schlaf herbeizusehnen und sich zugleich vor ihm und den damit verbundenen Träumen zu fürchten.
Fritz, Edgar und Rollo klammerten sich an ihre von Sonnenöl klebrigen Spielkarten. Man hatte sic h mit der Routine dreier Kriegsjahre einen einigermaßen guten Platz organisiert, auf den sogar Pionteks Ofen hin und wieder einen schüchternen Wärmestrahl sandte. Mit den Karten und einer schläfrig geführten Unterhaltung versuchten sie gegen Kälte und Angst anzukämpfen.
Bubi hatte sich neben Fritz gelegt. Sein Russenhelm wurde von den anderen als Aschenbecher benutzt. Seine Klamotten begannen allmählich zu trocknen, und er fragte sich, wie das möglich war, denn seine Haut fühlte sich eiskalt an und taub, ganz im Gegensatz zu seinem glühenden Kopf.
»Das haben wir heute doch gut gemacht, was?«, fragte er Fritz mit klappernden Zähnen und fieberglänzenden Augen.
»Ohne dich hätt ich’s nicht geschafft.« Fritz legte seine freie Hand auf Bubis heiße Stirn.
»Spiel schon aus«, knurrte Rollo. Er mochte nicht, dass der Dicke an dem Kleinen rumtatschte. War noch keiner an ’nem bisschen Fieber gestorben … Aber da war noch etwas anderes. Der Kleine hatte einfach ’ne zu hübsche Visage. Männer mit solchen Visagen waren nie richtige Männer, und das konnte Rollo nicht ausstehen.
Bubis Fieber verwandelte sich nach und nach in eine schläfrige Wärme.
»Fritz, kann ich bitte meine Sonnenbrille wiederhaben?«, flüsterte er.
»Mitten in der Nacht?«
»Ich glaub, ich brauch sie zum Schlafen.«
Fritz nickte, gab Bubi die Sonnenbrille. Tatsächlich fiel der Kleine sofort in einen tiefen Schlaf, kaum dass er sie aufgesetzt hatte. Die anderen grienten und waren beinahe neidisch.
Rollo sah sich nach Gross um, der aus einem Stück halb verkohltem Holz mit beachtlichem Geschick eine kleine Figur schnitzte.
»Wie ist’n das passiert mit dem Abriss?«
Gross schien ihn nicht zu hören. Er lauschte auf das unregelmäßige Artilleriefeuer, nickte, schien lautlos zu zählen, schüttelte den Kopf. »Das waren unsere. F. K. sieben Komma fünf. Nicht schlecht. Jetzt F. H. zehn Komma fünf. Ganz schön ausgeleierte Tüten.« Ein splitterndes Krachen grub ein grimmiges Grinsen in sein Faltengesicht. »Nähmaschine. Über ein Kilometer weit weg.«
Gross schaute Rollo an. »Klingt gar nicht schlecht, wenn man weit genug weg ist.« Er lauschte wieder nach draußen. »Große Kaliber. Großdeutschland im Großeinsatz.« Sein Daumen stieß gegen sein vorspringendes Brust bein. »Gross.« Sein linker Mundwinkel verzog sich. »Mein Name ist Programm. Nur für das Große zuständig. Das große Schlachten.« Sein Messer trennte der Holzfigur den Kopf ab. »Wo groß gehobelt wird, fallen große Späne. Kopfspäne.« Er zeigte eine Reihe schwarzer Zähne.
Rollo schluckte. Hatte ’n ganz schönen Schuss, der Mann. Aber sicher kannte er auch ’n paar gute Geschichten. »Ziemliche Rödelei beim Abriss, oder?«
Gross schaute ihn noch mal kurz an. Runzelte bei einem neuen Krachen die Stirn, als hätte er eine wichtige Entdeckung gemacht.
»Scheißnähmaschinen.«
»Redest wohl nicht gern drüber?«
»Hab am liebsten, wenn es ganz still ist«, sagte Gross. »Aber wann hat man das schon in diesem Scheißkrieg?«
Hans hatte sich möglichst nahe an den Ofen
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