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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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zurückgezogen. Obwohl man ihn, soweit unter den gegebenen Umständen möglich, zuvorkommend und mit dem vorgeschriebenen Respekt behandelte, spürte er die allgemeine Ablehnung der Männer. In ihren Augen hatte er sich nicht bewährt.
    Was, zum Teufel, erwarteten sie von ihm? In einem persönlichen Sturmlauf die Schlacht zu beenden ? Hier war das Opfer des Einzelnen doch völlig sinnlos. Mit wie viel Blut ein paar verbrannte Ruinen erkauft wurden! Nicht einmal ganze Ruinen. Die Eroberung von gerade einmal drei Stockwerken hatte zwei-, vielleicht dreihundert Männer verschlungen! Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine gesamtstrategische Lage diese Opfer rechtfertigte.
    Oder doch? Es war besser, nicht darüber nachzudenken.
    Für ihn hieß es nur, mit heiler Haut wieder herauszukommen. Das war zwar nicht besonders lobenswert oder gar ehrenvoll, doch für diese Männer konnte er nichts tun. Spätestens nach dem dritten Angriff dieser Art würde von ihnen keiner mehr übrig sein. Warum kämpfen sie eigentlich?, dachte er plötzlich. Es muss ihnen doch klar sein, dass sie nicht überleben können!
    Es war ihnen nicht klar. Sie glaubten an das Überleben, so wie einige von ihnen an Gott glaubten. Dieser Glaube gab ihnen Kraft, doch diese Kraft wurde von ihren Vorgesetzten nicht dafür genutzt, sie überleben, sondern sie kämpfen, sterben, verrecken zu lassen.
    Der Leutnant stellte erschrocken fest, dass seine Gedanken glatter Defätismus waren. Es war ja nicht überall so wie hier, konnte nicht überall so sein. Es gab auch einen anständigen Krieg. Irgendwo standen sich zivilisierte Menschen gegenüber und kämpften ritterlich. Es musste weit weg sein.
    Ich werde auch bald weit weg sein, dachte er, und es gelang ihm, sich mit diesem Gedanken in einen zunächst erstaunlich ruhigen Schlaf sinken zu lassen.
     
    Die Schmerzen begannen völlig unerwartet, wie Hammerschläge zwischen regelmäßigen Atemzügen. War er wach oder träumte er? Sicher war nur, dass er unfähig war, sich zu bewegen. Zwei riesige Fäuste schienen ihn ergriffen zu haben und allmählich in Stücke zu reißen. Sein klaffender Schädel, sein offen pulsierendes Herz, seine abgerissenen Gliedmaßen und Uniformteile, die ihm ins Gesicht klatschten und ihn zu ersticken drohten, machten ihm mit seltsamer Deutlichkeit klar, dass es sich um einen Traum handeln musste, aus dem es jedoch kein Entkommen zu geben schien.
    In Wirklichkeit wäre er an diesen Verletzungen längst gestorben! Nur in einem Albtraum gab es ein Überleben ohne Blut und Denken ohne Gehirn, begleitet von diesen Schmerzen, für die es keine Grenze des Erträglichen zu geben schien.
    Schreiend, wimmernd, nach Luft japsend kroch er in den blutigen Schoß der Realität zurück. Er s tarrte in zwei rehbraune Kinderaugen, die er erst nach und nach als die Augen des Obergefreiten Reiser identifizierte.
    Fritz nahm vorsichtig die Hand vom Mund des Leutnants. Hans sah die Augen seiner restlichen Männer, die ihn mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung ans tarrten. Er musste im Schlaf geschrien und damit die ganze Mannschaft aufgeschreckt haben.
    »Ruhe, Männer«, zischte Wölk. »Legt euch wieder hin. Hat nur einer vom Iwan geträumt.«
    »Unglaublich«, raunte Pflüger Rollo zu. »Und so was ist Offizier!« Er war ehrlich empört. Ein Vorgesetzter hatte Vorbild zu sein, auch im Schlaf. »Wenn er immer so schreit …«
    Er wurde von einer Explos ion unterbrochen. Eine Zwischenwand flog samt der Soldaten, die an ihr gelehnt hatten, in den Raum.
    Gross war als Erster auf den Beinen. Er schnappte sich eine MPi, lud durch, sprang die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Mündungsfeuer, schemenhafte Gestalten. Gross schoss auf eine dieser Gestalten, aber dann klemmte die MPi. Doch der Mann schrie und fiel schwer auf sein Gesicht. Seine Beine zuckten noch einige Male. Die anderen verschwanden im Keller.
    Bubi starrte immer noch auf einen hellen Fleck am Boden. Eine Ameise überquerte ihn. Sie kroch so langsam, dass man glauben konnte, die Explosion hätte auch ihr ein Bein abgerissen, so wie dem jungen Rekruten neben ihm. Die Ameise verschwand in einer Ritze. Bubi sah auf.
    Fritz hockte am Boden, starrte um sich und murmelte: »’s kalte Kotzen krieg ich, ’s kalte Kotzen, ’s kalte Kotzen!«
    Pflüger durchsuchte mit Gross, Rollo und einigen Pionieren das Erdgeschoss und den Keller. Die Angreifer waren ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekomme n waren. Rollo kam missmutig zurück.

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