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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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schieben. Er machte den Versuch, Luft zu holen, das Öl füllte sofort seine Mundhöhle, und seine Augen starrten weit aufgerissen und verklebt in grenzenlose Dunkelheit. Seine Bewegungen wurden schwächer, er schien unendlich weit zu fallen. Schon halb bewusstlos bekam er mit der freien Rechten etwas zu fassen, das in der Wand verkeilt zu sein schien, und hielt sich daran fest.
    Er schloss und öffnete die Aug en, bis er im Licht der Taschenlampe, die er noch immer in seiner verkrampften Hand hielt, verschwommen sah, dass er sich an einem Leichnam festklammerte, dessen aufgequollener Unterkörper zwischen zwei Betonblöcken festgeklemmt war. Durch die einzige Öffnung des Schachts fiel kein Licht, sondern Öl. Mit letzter Kraft versuchte er, sich hochzuziehen, drückte sich von dem Leichnam weg, presste ihn mit Knien und Händen nach unten und erreichte mit den Fingerspitzen den Rand der rettenden Öffnung.
    Er bekam keine Luft mehr und rutschte wieder zurück, versuchte es erneut und begann um Hilfe zu schreien. Die kräftige Hand in seinen Haaren spürte er erst, als sein Kopf durch das Öl aus der Öffnung tauchte.
    Es war Fritz.
    Hans klammerte sich an ihn, rö chelte, spuckte und schluchzte.
    »Du – du hast mich gefunden …«, stammelte er.
    Fritz sah nicht viel besser aus als er selbst. Er zitterte am ganzen Leib und klapperte mit den Zähnen.
    »Dacht ich mir, dass Sie es sind – wir sind nicht mehr allzu viele«, keuchte er. »Jetzt kommt’s auf jeden Mann an, auf jeden …« Er drückte dem Leutnant die Schulter, die mühelos in seine Hand passte, und half ihm hoch. »Schönes Gewehr haben Sie da.«
    Er meinte das Scharfschützengewehr der Russin, das Hans noch immer am Riemen auf dem Rücken trug.
    »Hab ich erbeutet«, stammelte der.
    Fritz hakte nicht nach. Erst mal war nur wichtig, hier rauszukommen. Er zerrte den Leutnant hinter sich her.
    »Ich bin ein S chwein«, japste der auf einmal.
    »Sind wir doch alle«, sagte Fritz.
    »Ich hab gestern nicht nur Feldmanns Frau geschrieben«, keuchte Hans. »Mein Onkel ist Oberst, und ich hab ihm geschrieben, er soll für meine Versetzung sorgen.« Er blieb stehen, da Fritz ihm nicht zuzuhören schien. »Ich wollte weg hier. Weg!«
    Fritz warf ihm nur einen kurzen Blick zu und wählte dann den Weg durch einige halb eingestürzte Keller. »So ’n hellen Verstand hätt ich Ihnen gar nicht zugetraut. Hab schon gedacht, Sie sind einer von der braunen Abteilung.«
    »Nein«, sagte Hans, »ich seh nur so aus.«
    Fritz musterte seine dreckverschm ierte Uniform und grinste kurz.
    Sie hielten an. Vor ihnen lagen die Reste eines feindlichen Gefechtsstandes. Wahrscheinlich war er durch eine Panzergranate vernichtet worden. Rosiges Geschlinge und Uniformfetzen klebten auf einigen patriotischen Plakaten.
    »Sehen aus wie unsere«, sagte Fritz.
    »Ich wollte euch im Stich lassen«, sagte der Leutnant leise.
    Fritz nickte. »Hätt ich schon längst getan, wenn ich’s könnte. Kommen Sie, Herr Leutnant.«
    Es war tröstlich zu wissen, dass man nicht der Einzige war, der lieber seine Haut rettete, als für Großdeutschland an der Wolga zu sterben.
    Der Leutnant hielt Fritz am Ärmel fest. »Solange wir zu zweit sind, möchte ich, dass es beim Du bleibt.« Er wischte sich Dreck vom Gesicht. »Ich bin Hans.«
    Fritz nickte. »Werd versuchen, es nicht durcheinander zu bri ngen.«
    Vorsichtig tasteten sie sich durch die Keller des Fabrikgeländes auf den rasch anschwellenden Gefechtslärm zu. Alles war nach den Regenfällen der letzten Tage überschwemmt. Abgerissene Hölzer, Rohre und aufgedunsene Leichen schwammen im knietiefen Wasser.
    Sie hörten eine Vielzahl Schritte, die sich ihren Weg durchs Wasser bahnten und duckten sich hinter eine zum Boden herabhängende Betondecke.
    Die Schatten von mindestens fünf zig russischen Soldaten passierten ihr Blickfeld. Sie gaben sich nicht die Mühe, leise zu sein. Das sah nicht gut aus.
    »Sag mal«, flüsterte Fritz, »wenn wir, ich mein, wenn du hier rauskommst …«
    »Wenn ich hier rauskomme, nehm ich dich mit. Das verspreche ich dir.«

 
     
     
     
     
     
    23
     
     
    S ie erreichten eine Halle, in der sich ein ganzer Friedhof verrosteter Geschützteile befand. Von draußen war heftiger Kampflärm zu hören. Ein Heer von Ratten huschte vor ihren Schritten durchs faulige Wasser davon. Erschöpft kletterten sie bis zu einem schmalen Fenster, das kein Glas mehr hatte und in dem verloren der Lauf eines deutschen MGs hing.
    Sie

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