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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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müsst ihr einfach nur noch laufen!«
    Sie hetzten im toten Winkel der russischen MGs über den Platz. Das Dröhnen hinter ihnen schwoll rasch an. Sie liefen weiter, ohne sich umzusehen. Jede Verzögerung bedeutete den Tod. Die Angst verlieh ihnen keine Flügel, sie drohte sie zu lähmen, nahm ihnen den Atem.
    Edgar fühlte, dass die Rohre der Ungetüme direkt auf ihn gerichtet waren, während er weiterstolperte und die Umgebung vor seinen Augen verschwamm. Nicht, wimmerte es in ihm, nicht schießen!
    Aber der Stahl und die Ketten und das Feuer kannten keine Gnade, und die Menschen, die in den metallenen Ungetümen saßen, auch nicht. Eine lange rotgelbe Zunge schoss aus einem der Panzer, erfasste Edgar und die Sprengladungen auf seinem Rücken. Die anderen warfen sich in den nächsten Trichter. Schreiend und brennend wankte der Schwabe auf sie zu.
    Bubi schloss die Augen, presste die Fäuste gegen die Ohren. »Er hat das ganze Dynamit!«
    Rollo riss seine Pistole hoch. Fritz begriff, was er vorhatte. Er wollte ihm die Waffe wegschlagen und aus dem Trichter springen, um Edgar zu helfen. Rollo stieß ihm den Ellenbogen ins Gesicht, der Leutnant und Gross warfen sich auf ihn.
    Rollos Kugel durchschlug den Oberschenkel des Schwabe n. Edgar fiel nur wenige Schritte vom Trichter entfernt zu Boden.
    »Tornister weg!«, brüllte Rollo ihm zu. »Tornister …«
    Edgar starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an und machte noch eine schwache Bewegung mit beiden Armen. Es sah aus, als wolle er auf sie zuschwimmen. Dann riss ihn die Explosion auseinander.
    Fritz stieß die anderen weg und stürzte zu ihm. Edgar lebte noch, trotz seiner entsetzlichen Wunden. In seinem aufgerissenen Körper schlug das Herz. Fritz setzte sich neben ihn, hielt seine Hand fest, mit der er nach der Wunde tasten wollte.
    »Nicht anfassen. Nicht anfassen«, flüsterte er.
    Ein schwerer sowjetischer Sturmpanzer rollte von hinten direkt auf ihn zu, ein Koloss, der sie zu Insekten degradierte.
    »Fritz!«, schrie Hans verzweifelt durch den Qualm. »Weg, schnell! Panzer!«
    Er sprang aus dem Trichter und zerrte Fritz von Edgars zerfetztem Leib weg. Rollo gab ihnen Feuerschutz. Mit letzter Kraft erreichten sie den Keller der nächsten Ruine; die Panzer hatten das Haus in einen rauchenden Schutthaufen verwandelt, aus dem die Hölzer des Dachgebälks wie verkohlte Speerschäfte ragten.
    In dem Keller befanden sich noch drei deutsche Soldaten von allerhöchstens zwanzig Jahren.
    Zwei russische Panzer rollten an ihrem Unterschlupf vorbei. Etwas später hörte man zwei dumpfe Explosionen. Die restlichen Russen zogen sich unter dem Beschuss der deutschen Artillerie zu den Ruinen auf der anderen Seite des Platzes zurück.
    Fritz nahm das nicht mehr wahr. »Er hat alles noch gespürt«, stammelte er. »Sein Herz, das Segelschiff … Alles weg, bis auf den Mast …« Er sah Rollo an, und seine tränenfeuchte Grimasse sah plötzlich aus, als würde er lächeln. »Jetzt fehlt wieder der dritte Mann.« Dann schluchzte er hemmungslos.
    Rollo nahm ihn in den Arm. »Dann spielen wir Offiziersskat. Komm her, mein Dicker, komm her.«
    Hauptmann Musk betrat den Raum. Er war genauso erschöpft wie seine Soldaten, zeigte jedoch Haltung. »Gut gemacht, Männer«, sagte er. »Wirklich gut gemacht. Kompliment. Jetzt macht ihr erst mal Pause. Den Rest der Stadt nehmen wir ohne euch.«
    Erst jetzt erkannte er Hans von Wetzland, der völlig fertig auf dem Boden hockte. Er war sicher gewesen, den jungen Leutnant nicht lebend wiederzusehen. Ohne sichtbare Regung akzeptierte er, dass er diese kleine Wette gegen das Schicksal verloren hatte, und trat neben seinen Untergebenen. »Na, Herr von Wetzland, die Feuertaufe überstanden?«
    Hans starrte auf die Stiefelspitzen seines Vorgesetzten. »Jawohl, Herr Hauptmann.«
    Erst in diesem Moment wurde ihm richtig bewusst, mit wem er sprach, und er versuchte aufzustehen, doch Musk ging bereits weiter.
    Hans sah ihm nach. Er kann noch gehen, dachte er. Wieso kann er noch gehen, Worte, zusammenhängende Worte sprechen? Wieso kann ich noch sprechen, denken? Kann ich? Kann ich noch etwas, irgendetwas?
    Er hätte am liebsten geschrien, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. In seiner Brusttasche spürte er den Brief an seine Mutter. Gleichgültig, was hier noch passierte, er würde ihn morgen früh abschicken.

 
     
     
     
     
     
    ZWEITES BUCH

 
     
     
     
     
     
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    M an schrieb den 8. November 1942.
    Der Lageberich t des OKH

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