Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
das Erdgeschoss. Sie waren offenbar mit ihrer Kraft am Ende. Rollo und Fritz besetzten mit ein paar anderen den ersten Stock. Im Vergleich zu ihrem ersten Angriff war das ganze fast wie ein Spaziergang gewesen.
33
N ur fünf von den Neulingen hatten den Sturmlauf nicht überlebt. Nachdem alle Zugänge im Erdgeschoss und aus dem abgesoffenen Keller vermint waren, versammelte sich der Zug im ersten Stock. Eine der wenigen freien Stellen an der Wand wurde von einem mit Kohle gezeichneten russischen Schwanz verunstaltet, der sich in einen ausladenden deutschen Arsch bohrte. »Hitler kaputt«, stand darunter.
»Dreckige Schwuchteln«, sagte Rollo.
Pflüger suchte nach einem Lappen, um die deutsche Ehre wiederherzustellen, als die Kugel eines russischen Scharfschützen ein Loch in den deutschen Arsch stanzte. Schon bald musste man feststellen, dass sich die Plage der feindlichen Scharfschützen eher noch vergrößert hatte. Jeder Schatten hinter den zu schmalen Schießscharten verengten Fenstern wurde mit gnadenloser Genauigkeit beschossen.
Fluchend krochen die Soldaten über den Boden und begannen aus Zeltbahnen Vorhänge zu fertigen, die ihnen ein Mindestmaß an Ruhe gewähren sollten. Die unzähligen Einschüsse in den Wänden hatten den Stellenwert von Erinneru ngsfotos. Liebevoll strich Pflüger mit den Fingerspitzen über eine blutbefleckte Vertiefung in der Wand und raunte dem pickelgesichtigen Müller zu, dass er an dieser Stelle das letzte Mal zwei Russen erledigt habe. Müller nickte genauso ehrfürchtig, wie es von ihm erwartet wurde.
Gross setzte einen als Ofen umgebauten, verrosteten Benzinkanister wieder in Gang. Piontek schaute sich nach verwendbarem Brennmaterial um. Die magere Ausbeute bestand aus einem kleinen zusammenklappbaren Hausaltar.
Er hob bereits das Beil, als Gross sagte: »Das ist eine schöne alte Arbeit. Siebzehntes Jahrhundert, Nussbaumholz.«
Dann lachte er stumm, zertrat den Altar zu Kleinholz und beförderte die Bruchstücke ins Feuer.
Bubi, mit Notabitur einer der wenigen unter den Soldaten mit höherer Schulbildung, kroch an seine Seite. »Woher wusstest du das mit dem Alter und dem Holz?«
Gross antwortete nicht.
»Soll ich dir was zum Schnitzen besorgen?«
»Ich verforme kein Holz mehr«, sagte Gross. »Ich bin befördert worden. Ich verforme nur noch Menschen.«
Sein Gesichtsausdruck vertrieb Bubi in einen anderen Winkel des Raumes.
Rollo spürte, wie ihm die feuchte Kälte aus den Klamotten bis in die Knochen drang. Zähneklappernd pulte er den Dreck aus dem MG-Verschluss, bis ihn ein bellender Husten schüttelte.
Fritz kroch zu ihm hin, und Rollo sagte resignierend: »Alles Scheiße hier. Drei Müllers, mit deinem Gemeingefährlichen vier. Wie soll man da noch klarkommen? Und jetzt hab ich auch noch meine Wette verloren!«
Fritz fühlte, wie auch er eine dicke Nase bekam. »Zahl’s nach ’m Krieg.«
Er reichte ihm seinen Flachm ann, und Rollo trank. Der russische Wodka war pure Medizin. Da steckte jahrtausendealte Erfahrung dahinter, das spürte man sofort.
Sein Blick wanderte über die drei Müller’schen Gesichter, die sich mit jedem Schluck ähnlicher wurden. »Dreht sich einem ja der Kopf. Einer betet, einer schreibt, der dritte sieht aus wie frisch aus der Gartenfräse …«
Fritz prostete dem Rotgesichtigen zu. »Der gemeine Müller! GM!«
Der so Getaufte sah vor K älte zitternd zu ihnen herüber.
»Fühlt sich angesprochen«, stellte Fritz fest.
»GM«, schrie Rollo, und das Rotgesicht zuckte zusammen. Das war gut. Einige lachten trotz der Kälte. Rollo tätschelte liebevoll den Unterarm des Betbruders. »Ist schon in Ordnung, dass du überlebt hast. Ich verzeih’s dir.«
»Beten hilft in allen Lebenslagen, wie man sieht.« Fritz’ Hand landete schwer auf der Schulter des Neuen. »Hilft allgemein, der Allgemeine Müller, AGM.«
Die Soldaten hoben die Feldflaschen und prosteten dem Neugetauften zu.
Jetzt fehlte nur noch der pickelgesichtige Müller.
Fritz entwendete ihm mit einem schnellen Griff das schwarze Notizheft, in das er eifrig geschrieben hatte. Unter allgemeinem Gejohle versuchte der Neue vergeblich, es wiederzubekommen. Die schwachen Klagerufe eines Verletzten, die sich plötzlich von draußen in das Gelächter mischten, wurden zunächst überhört.
Fritz begann mit einer Hand in dem Heft zu blättern, während er sich den letzten Müller mit der a nderen vom Leib hielt. Mit wachsendem Erstaunen begann
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